Das Ende der Zurückhaltung

Gestern Morgen um 06.00h begann der Herbst mit einem lauten Knall. Ein Blitz hat bei uns eingeschlagen, so nah, wie ich es noch nie erlebte. Danach Regen, dazu ein Temperatursturz. Jetzt welken die Blätter. Da und dort sieht man noch Kastanien am Boden. Die meisten Kastanienbäume sind im Zuge der Überbauung der letzten Landreserven gefällt worden.

Jetzt ist es da, was sich lange ankündigte
Es ist eigenartig, in den Zeitungen jetzt das ausgebreitet zu sehen, was wir jahrelang befürchtet haben und herannahen sahen. Aber niemand schien es sehen zu wollen oder auszusprechen. Es ist eigenartig, in den Zeitungen jetzt die Karten mit den militärischen Aufmarschplänen und den Flüchtlingsströmen zu sehen. Als ob alles einem Drehbuch folgte, das sich schon lange angekündigt hatte. Aber niemand schien es ernst zu nehmen.

Gestern hat sich der amerikanische Präsident entschieden, in Syrien einzugreifen, auch ohne UNO-Mandat, was am Anfang der Krise ja lange von Russland und China durch ihr Veto verhindert worden war. Heute schreibt der Kommentator, dass das Modell der militärischen Zurückhaltung wohl gescheitert sei. Hätte der US-Präsident früher eingegriffen, hätten sich die Probleme nicht so aufgeschaukelt und ineinander verstrickt.

Das Ende der Zurückhaltung
Der aggressive Knall der Weltkriege im 20. Jahrhundert hat eine Blase in die Geschichte getrieben, er hat ein Echo geworfen, das uns heute noch taub macht vom Lärm. Die folgenden 50 Jahre waren zunächst gelähmt, man duckte sich unter der Angst vor neuen Konfrontationen. So bis etwa 1989, dem Zusammenbruch des Ostblocks, als die Systemkonkurrenz aufhörte. Nato und KSZU schienen plötzlich ohne Arbeit. Historiker sprachen von den USA als der „einzigen Supermacht“ und von einem Endsieg des Kapitalismus. Der „cordon sanitaire“ der Randstaaten, die früher Russland und Westeuropa getrennt hatten, konnte wieder mal die Seite wechseln.

Als bei einzelnen Akteuren allmählich die Aggressivität zurückkam, waren andere immer noch gelähmt und inaktiv, so dass die aggressiv vorgetragenen Interessen überbordeten, auf allen Gebieten, sei es in der Innen- oder Aussen-Politik oder in der Wirtschaft. Jetzt gilt es aufzuwachen. Die „Geschichte“ regt sich wieder, die unter der Furcht vor einer atomaren Selbstvernichtung im Kalten Krieg eingefroren war.

„Gescheiterte Staaten“ und öffentliche Sicherheit
Wir müssen uns wohl an die Lehren erinnern, die Europa schon im 17. Jahrhundert gezogen hat nach dem 30jährigen Krieg. Der Staat und die Staatsmacht müssen wieder respektiert werden (in den 90er Jahren wurden Politiker von den CEOs verlacht. In die Politik werde nur die „zweite Garnitur“ von Persönlichkeiten abgestellt. Wer etwas auf sich halte, gehe in die Wirtschaft.)

Die Diktatoren Saddam und Gaddafi wurden für den Schutz von Machtinteressen gestürzt. Ihre fehlende demokratische Limitation war nur ein Vorwand. Aber dieselben Mächte können nun keine Nachfolgeordnung etablieren. Es ist ein Chaos entstanden von „Warlords“ und „gescheiterten Staaten“, bis sich nach unendlich viel Leid eine neue Ordnung herausarbeiten wird.

Öffentliche Sicherheit ist ein hohes Gut und wird durch all die Unruheherde wieder mehr geschätzt. Wer diese garantieren kann, muss respektiert werden. Hier müssen sogar Argumente der demokratischen Legitimation zeitweise gegen andere Güter abgewogen werden (was sich in der Bibel darin ausdrückt, dass Potentaten als von Gott eingesetzt angesehen werden). Die Aufstände der jüngsten Zeit, auch im arabischen Raum, zeigen, dass eine Ordnungsmacht schnell zerstört, aber unendlich viel schwieriger wieder aufgebaut werden kann.

In Gesellschaften ohne demokratische Tradition läuft „demokratische Legitimation“ oft auf einen plebiszitären Druck der Strasse hinaus. In einzelnen asiatischen Staaten folgen sich Staatsstreiche, die über die Strasse ausgefochten werden, in rascher Folge. Jede Gruppe bringt ihre Anführer an die Macht, die bald darauf unter dem Vorwurf der Korruption wieder weggeputscht werden. So kann keine Rechtssicherheit entstehen. Der alte Hobbes wird wohl eine Renaissance erfahren.

 

Aus Notizen 2014
Foto von Somchai Kongkamsri, Pexels