Göttersturz II

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Rede vom «Imperium» wieder in Umlauf gebracht. Imperien, das waren vor der Globalisierung die grössten Gebilde, die menschliches Handeln hervorgebracht hat. Der Fall der antiken Imperien hat Himmel und Erde erschüttert, der Lärm brandete bis in die Unterwelt. Das fand auch in der Bibel grossen Widerhall.

Im Namen von Imperien wurden Könige ein- und abgesetzt, Städte belagert, Tempel geplündert. Das Schicksal ganzer Völker wurde hier entschieden. Das war mit viel Leid verbunden und weckte religiöse Bilder von höchster Intensität. Da ging es um Heil und Unheil im grossen Massstab. Die Hoffnung, die im Diesseits keine Wohnstätte mehr zu finden schien, wanderte ans «Ende» der Geschichte. Von dort her würde Gott dem Volk zu Hilfe eilen. Ein Friedenskönig würde das Volk von Knechtschaft befreien und die Völker in Frieden und Recht vereinen.

Babel
Das biblische Israel hat viele Fremdherrschaften erlebt. Der Name Babylon steht beispielhaft für «Imperium» und kann im Lauf der Zeit auch für andere Reiche stehen, etwa das antike Rom. Der Prophet Jesaja kündigt das Ende Babylons an. Auch dieses Grossreich fällt. Es ist kaum zu glauben. Die Schilderung hat eine ungeheure Dramatik:

«Wie Sturmwinde daher brausen, so kommt es aus der Wüste, aus einem Land, das Furcht erregt. Eine harte Schau wurde mir gewährt.

Darum ist ein Zittern in meinen Hüften, Wehen haben mich gepackt wie die Wehen einer Gebärenden. Ich bin so verstört, dass ich nicht hören, so entsetzt, dass ich nicht sehen kann.» (Jes 21)

Wir können die Gefühle nachempfinden, heute, wo wir jeden Tag nach der Ukraine blicken, wo jeder Tag eine alte Gewissheit über den Haufen wirft und Kommentatoren eine «Zeitenwende» an die Wand schreiben.

«Denn so hat der Herr zu mir gesprochen: Geh, stell den Späher auf!
Und der, der Ausschau hielt, rief: Auf der Warte stehe ich beständig.

Und sieh da, ein Menschenzug kam, Pferdegespanne! Daraufhin sprach er: Gefallen, gefallen ist Babel! Und alle Bilder ihrer Götter hat er auf dem Boden zerschmettert!» (Jes 21)

Göttersturz
Das Undenkbare ist geschehen, eine Weltmacht schwankt, sie ist gefallen. All ihre Götter hat er auf dem Boden zerschmettert! Mit dem Aufstieg Babylons, das ganze Völker unter seine Herrschaft zwang, waren die alten Nationalgötter gefallen. Jetzt fällt auch Babylon, der oberste Gott fällt – die Kategorie «Gott» wird frei von nationalen Beschränkungen. Gott muss grösser gedacht werden.

Die Völker stimmen ein Spottlied an, es ist bei den Propheten zu hören, in der Offenbarung, es schallt durch die Jahrhunderte und inspiriert später die Hoffnung auf den Fall Roms und aller Unterdrücker. Es ist eine Utopie, und mehr, eine Zusage geworden, dass die Reiche nicht in den Himmel wachsen, dass Gott für Recht und Gerechtigkeit sorgt. Das ist die Hoffnung der antiken Apokalypsen, sie sehen die Weltreiche wachsen und untergehen. Mit gewaltigem Getöse fahren sie in die Unterwelt.

Der Fall in die Unterwelt

„Wie still ist der Treiber geworden, wie still das Stürmen.
Der Herr hat den Stock der Frevler zerbrochen.
Die ganze Welt ist zur Ruhe gekommen, in Ruhe liegt sie da,
man bricht in Jubel aus. (Jes 14)

Die Unterwelt wartet schon:

„Deinetwegen bebte tief unten das Totenreich,
es hat deine Ankunft erwartet.
Deinetwegen hat er die Schatten geweckt,
alle Mächtigen der Erde,
von ihren Thronen liess er sich erheben
alle Könige der Nationen.

Sie alle heben an und sprechen zu dir:
Auch dir wurde die Kraft genommen wie uns,
uns bist du gleich geworden!
Ins Totennreich hinabgestürzt wurde deine Überheblichkeit,
der Klang deiner Harfen,
als Lager ausgebreitet sind unter dir Maden,
und Würmer sind deine Decke.“ (Jes 14)

Der Himmelssturm
Babel ist vom Himmel gestürzt, wo es sich schon einen Platz erträumte.

„Wie bist du vom Himmel gestürzt,
du Morgenstern, Sohn der Morgenröte!
Wie bist du zu Boden geschmettert,
der du Nationen besiegt hast!

Du aber hattest in deinem Herzen gesprochen:
Zum Himmel empor will ich steigen,
hoch über den Sternen Gottes werde ich meinen Thron aufrichten,
und ich werde auf dem Berg der Versammlung sitzen, im höchsten Norden!
Über Wolkenhöhen will ich emporsteigen,
dem Höchsten mich gleichmachen!» (Jes 14)

Gott wird herrschen
Wenn man mit der Bibel auf diese Ereignisse schaut, dann ist man mit den Kleinen. Das alte Israel hat keinen Grosskönig in den Himmel gehoben, keinen Cäsar vergöttlicht. Damit ist man näher bei der Realität (das hält nie lange, wenn ein Regent sich in den Himmel hebt) und näher bei den Menschen. Gott und Mensch werden nicht vermengt. Wenn absolute Werte, die in der Religion ohne Schaden gefeiert werden können, in der sinnlichen Welt verwirklicht werden sollen, schlägt das Absolute bald ins Totalitäre um. Auf diesem Weg folgt zwangsläufig ein Weg zur Diktatur – auch dafür kann der Turm von Babylon als Symbol stehen.

Bei Ezechiel verspricht Gott, dass er aus dem Volk einen eigenen König erwecken, dass er selber seine Schafe weiden werde. Hier wird nicht ein Imperium versprochen. Was sich hier abzeichnet ist eine universelle Sicht, die die Einheit nicht empirisch erzwingen will, sondern ein Recht vor Augen stellt, das alle Menschen einschliesst.

Das Recht wird herrschen
Allen Menschen ist Recht und Würde zugesprochen. Hier herrscht das Recht selbst, nicht Menschen über Menschen. So ist der Rechtsstaat eine Annäherung an das, was «Reich Gottes» im Glauben meint. «Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene suchen und das Verirrte zurückbringen, das Verwundete verbinden und das Schwache stärken; ich will sie weiden, wie es recht ist.» (Ez 34,15f)

 

Bild: Ein Engel erzählt vom Fall Babylons, Apokalypse, 13. Jh.

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