Gibt es eine verborgene, wahre Kirche?

Es könnte einer auf die Idee kommen, es gebe eine «heimliche Kirche» und diese sei gestiftet von Nikodemus oder von Josef von Arimathäa. Denn diese widersprachen den Autoritäten ihrer Zeit und sie schützten sich, indem sie bei Nacht zu Jesus kamen und im Geheimen. Viele könnten sich darin wiedererkennen, die sich von der Mehrheitskirche nicht anerkannt fühlen oder sie insgesamt verwerfen.

«Danach bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich, den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu ab.

Es kam aber auch Nikodemus, der vormals in der Nacht zu Jesus gekommen war, und brachte Myrrhe gemischt mit Aloe, etwa hundert Pfund.» (Joh 19)

 

In der Nacht
Josef und Nikodemus bringen Myrrhe und Aloe. Sie kommen wie die heiligen drei Könige. Die Stelle liest sich wie die Erfüllung der Weissagung: «Alle Könige müssen ihm huldigen, alle Völker ihm dienen» (Ps 72). Aber hier geschieht es heimlich (Josef kommt heimlich, Nikodemus kommt in der Nacht.)

Sein Reich ist fast unerkannt angebrochen. Es beginnt auf einem Kreuz statt auf einem Thron, mit einem Tod statt mit einer Geburt, mit einem offensichtlichen Scheitern statt mit einem Anbruch in Herrlichkeit. Und diese Herrschaft ist in die Hoffnung gesetzt.

Das Reich Gottes bleibt unsichtbar, wenn nicht im Vertrauen darauf Handlungen erfolgen. Es gleicht einem Tempel von Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, er strahlt Frieden aus in die ganze Welt. Aber spürbar wird es erst, wenn Menschen sich daran inspirieren. Und inspirieren können sie sich erst, wenn sie ihn sehen.

Heimliche Kirche?
Es könnte einer auf die Idee kommen, es gebe eine «heimliche Kirche» und diese sei gestiftet von Nikodemus oder von Josef von Arimathäa. Denn diese widersprachen den Autoritäten ihrer Zeit und sie schützten sich, indem sie bei Nacht zu Jesus kamen und im Geheimen. Aber sie erkannten die Wahrheit und bekannten sich dazu. Ihr Glaube wird so ausgezeichnet. Viele könnten sich darin wiedererkennen, die sich von der Mehrheitskirche verfolgt oder nicht anerkannt fühlen.

Aber es ist falsch zu sagen, es gebe eine «heimliche Kirche» und diese sei gestiftet von Nikodemus oder von Josef von Arimathäa. Denn diese beiden kamen zwar heimlich und im Schutz der Nacht, aber sie haben gehandelt. Sie haben gehandelt, als es noch dunkel war, so haben sie geholfen, dass es eines Tages hell werden kann in der Kirche.

Der Gral – eine Legende als Gegenentwurf
In der Legende vom Heiligen Gral lebt die Tat von Joseph und Nikodemus weiter.

(«Der Artussage zufolge brachte Joseph von Arimathaia den Heiligen Gral im Jahr 1247 nach England. Einer frühchristlichen Legende des Nikodemus-Evangeliums zufolge war der Gral jener Kelch, den Christus beim letzten Abendmahl benutzte und in dem dann Joseph das Blut des Gekreuzigten auffing. Daraus entstand der Mythos der Tafelrunde: die Ritter der Tafelrunde um König Artus suchten den Heiligen Gral.» – Aus Heiligenlexikon)

Der Lebensraum des Grals ist die Legende: die Suche nach Wahrheit und Geborgenheit, die Abgrenzung von Tendenzen, die als lieblos empfunden werden, im Gegensatz zum Evangelium, auf das diese sich berufen. So lebt ihre Tat in mittelalterlichen Ritterepen weiter und in moderner Esoterik.

Rückzug oder hervortreten?
Der Bibeltext zeigt die Versuchung, sich in eine verborgene Ecke zurückzuziehen und dort eine religiöse Tradition zu pflegen, die in der Umgebungskultur «leider» keine Beachtung findet. Die heimlichen Anhänger Christi, die bei Nacht kommen, weil sie Verfolgung befürchten, vertrauen aber doch auf das Evangelium und handeln danach. Sie suchen das Licht, nicht das Dunkel. Und wer verfolgt ist, sehnt sich danach, hervortreten zu dürfen. Das zeigen auch die Legenden, die sich an Josef und Nikodemus festmachen.

 

Aus «Von Gott erzählen», Notizen 2014

Im Sprachgebrauch gibt es die «wahre» oder «verborgene» Kirche, die polemisch der abgeirrten Kirche gegenübergestellt wird. Als «heimliche Kirche» wird zuweilen eine verfolgte Kirche bezeichnet, die sich in unwegsame Gebiete zurückzieht wie z.B. die Täufer in der Reformationszeit. «Nach der Durchsetzung der Reformation setzte eine heftige Verfolgung ein. Zahlreiche Täufer wurden zum Tode verurteilt oder als Galeerensklaven verkauft. Nur wenige Taufgesinnte konnten sich durch Flucht ins Berner Oberland oder ins Emmental dem Zugriff der Behörden entziehen und dort als „heimliche Kirche“ ihren Glaubensüberzeugungen gemäss leben.» (Wikipedia)