Dein Reich komme!

Wie Unfrieden heilt

Wer je Gewalt erlebt hat, der weiss, dass Friede notwendig ist – wie die Luft zum Atmen. Wer Gewalt erlebt, dem stellt es buchstäblich den Atem ab. Es ist ein Schock, der das Leben teilt in ein Davor und Danach. Wer vorher ohne Mühe auf Menschen zugehen konnte, nachher kann er es nicht mehr. Das Vertrauen ist erschüttert. Und es ist eine lange Heilungsgeschichte, bis man dieses Trauma überwunden hat.

 

Es ist „Friedenszeit“: In vielen reformierten Gemeinden des Kantons beschäftigt man sich mit dem Frieden. Als Zeitgenosse hat man manchmal Mühe mit solchen Besinnungstagen, die einem von aussen verordnet werden. Man hat Widerstände, sich darauf einzulassen.

Und das Thema Frieden lockt vielleicht auch nicht wirklich. – Frieden ist ein Ideal. Er widerspricht so sehr all dem, was wir täglich in den Nachrichten hören. Es scheint nutzlos, die Zeit darauf zu verwenden. Wird die Menschheit je so weit kommen, dass sie in Frieden zusammen lebt? Dass es keinen Krieg und keine Gewalt mehr gibt?

Man kann es nicht glauben – und doch ist es irgendwie unverzichtbar, daran zu glauben. Wie sollte man sonst leben, wenn das nicht möglich wäre: Frieden? Wie mit andern zusammenleben, wenn man Beziehungen nicht gut und gewaltfrei gestalten kann?

Umgekehrt leuchtet es mehr ein: Wer je Gewalt erlebt hat, der weiss, dass der Friede lebensnotwendig ist – wie die Luft zum Atmen. Wer Gewalt erlebt, dem stellt es buchstäblich den Atem ab. Es ist ein Schock, der das Leben teilt in ein Davor und Danach. Wer vorher ohne Mühe auf Menschen zugehen konnte, nachher kann er es nicht mehr. Das Vertrauen ist erschüttert. Und es ist eine lange Heilungsgeschichte, bis man dieses Trauma überwunden hat.

Gewalt ist nicht nur schlimm in dem Moment, wenn sie zugefügt wird. Sie wirkt weiter, sie wirft einen langen Schatten in die Zukunft. In einem Land, das Krieg oder Bürgerkrieg erlebt hat, Gewalt und Terror, da wird oft eine ganze Generation traumatisiert. Und es braucht 20 Jahre, 50 Jahre, es braucht Zeit, dass eine neue Generation heranwachsen kann und wieder Vertrauen lernt. Es braucht mehrere Generationen, bis sich ein Volk erholt hat, bis sich die Menschen aus der Vergangenheit befreien und ihre Zukunft wieder unbelastet gestalten können.

Nein, Friede ist etwas ganz Elementares. Ohne Frieden kann das Leben sich nicht entfalten. Wir brauchen ihn wie die Luft zum Atmen, wie das tägliche Brot. Im Unser Vater bitten um das tägliche Brot. Aber noch vorher bitten wir, dass Gott und sein Reich kommen. Das klingt abstrakt. Aber wir ahnen jetzt, warum es so wichtig ist – wie das tägliche Brot. Denn es gibt kein Brot, wo nicht Frieden ist, wo nicht immer neu der Frieden aufgebaut wird. Darum diese Bitte:

Dein Reich komme!
Selber herbeiführen können wir dieses Friedensreich nicht.

Im 19. Jahrhundert glaubte man an den Fortschritt, auch in der Kirche. Man lernte damals Krankheiten zu besiegen, die die Menschheit jahrhundertlang plagten. Man bekämpfte die Armut. Man versuchte durch weltweite Friedensordnungen den Krieg auszurotten.

Die menschliche Zivilisation schien an einem Höhepunkt. In der Kirche dachte man, das Reich Gottes wachse mit dem Fortschritt in der Geschichte. Bald brauche es die Religion nicht mehr und die Kirche könne absterben, weil Staat und Gesellschaft von sich aus alles verwirklichen, was die Kirche verkündet.

Dieser sogenannte Kulturprotestantismus ist 1914 in eine Krise geraten. Diese zivilisierte Welt fiel in einen Krieg, der die ganze Welt umspannte. Wer eben noch von Frieden redete – jetzt jubelte er den Fahnen zu. Priester segneten die Kanonen. Und im Krieg erlebte man, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, zu wieviel Brutalität der Mensch imstande ist.
Die Kirche machte eine Kehrtwende. Das Reich Gottes, es wächst nicht mit unserer Geschichte, so erkannte man. Es kommt nicht vom Menschen, es kommt von Gott her. Und der Mensch kann es nur annehmen, wenn er total verwandelt wird.

Auch im ersten Testament finden sich solche Überlegungen. Es ist ja über Jahrhunderte entstanden, und es ist spannend zu verfolgen, wie das Bild des Menschen sich im Lauf der Jahrhunderte aufgrund der Erfahrungen verändert hat. Anfangs mahnte man den Menschen noch, er solle sich das Gesetz „auf die Stirn schreiben“, damit er es nicht vergisst. Am Ende bat man Gott, er möge das Gesetz den Menschen „ins Herz schreiben“. – Es braucht eine neue Schöpfung. Der alte Mensch, so sah man, kann das Gesetz nicht halten. Die Menschheit wird nie aus sich heraus Frieden finden, wenn nicht Gott ihr hilft. Darum die Bitte: Dein Reich komme. Selber herbei-zwingen können wir es nicht. Es kommt „am Ende der Geschichte“. Es ist der Menschensohn, der am Ende kommt. Er kommt uns von der Zukunft her entgegen.

Nur warten? Oder tun?
Aber wir sind auch nicht hilflos. Wir müssen nicht verzweifeln über die Natur des Menschen, weil diese nicht zum Frieden tauge. Wir müssen nicht passiv warten, bis Gott eingreift. Was wir tun können, was wir beitragen können, das erzählt die Bibel in den Gleichnissen vom Reich Gottes.

Zunächst heisst es nur: Seid wachsam! Der Evangelist Markus sagt: Wir wissen nicht, wann das Ende kommt, wann Gott sein Reich aufrichtet. Darum sollen wir wachsam sein. – Aber was bedeutet das? Was hilft uns das zum Frieden?

Markus vergleicht unsere Situation mit der von Knechten, Angestellten in einem Haus. Christus, der Hausherr, ist über Land gegangen. Er überlässt das Haus seinen Knechten. Sie sollen es hüten, bis er zurückkommt. Das ist die Situation der Gemeinde nach dem Tod Jesu. Er ist fortgegangen und will wieder kommen „am Ende der Zeit“. Es ist unsere Situation, wir warten, bis Gott kommt, bis wir leben können in seiner Gegenwart, und alle Fragen eine Antwort kriegen.

Wir hüten das Haus, bis der Hausherr wiederkommt. Die Evangelisten Matthäus und Lukas haben dieses Bild weiter ausgeführt: Der Hausherr geht über Land und vertraut sein Haus den Knechten an. Jedem gibt er einige Talente Silber, damit er damit haushalten soll in der Zwischenzeit. Ein Talent Silber, das ist damals ein Geld-Betrag. Das Wort Talent ist aber sprichwörtlich geworden für eine Gabe, die wir von Gott erhalten haben.

Wenn wir das Wort Talent hören, denken wir an Talentshows, an Menschen, die etwas Besonderes können. Aber hier geht es um etwas anderes. Gott braucht uns Menschen als Stellvertreter, bis er wiederkommt. Darum hat jeder Mensch solch ein Talent erhalten, nicht nur das Mädchen, das gut singen kann und von einer Karriere träumt, nicht nur der Junge, der ein Fussball-Star werden will.
Ein Talent, mit dem wir das Haus Gottes hüten, bis er selber kommt, das ist z.B. die Geduld, mit der wir Menschen begegnen. Das ist die Liebe, die wir den Kindern entgegen bringen, auch dann, wenn sie in ihr schwieriges Alter kommen. Das ist die Beharrlichkeit, mit der wir an dem festhalten, was wir als richtig erkannt haben, auch dann, wenn es vielleicht nicht populär ist oder andere uns auslachen.

Ein Talent, mit dem wir das Haus Gottes hüten, bis er selber kommt, das ist die Bereitschaft, immer wieder einen Anfang zu machen – im Vertrauen, dass wir nicht allein sind, weil Gott uns kennt und zu Hilfe kommt.
Das ist das Interesse, das wir aneinander nehmen, dass wir nach einander fragen und einander helfen. So sagt auch der Apostel Paulus: „Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Nehmt euch gegenseitig eurer Nöte an. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander.“ (Römer 12 ,12f)

Das Talent, das Gott uns gab, ist nicht unbedingt etwas Glänzendes, das im Fernsehen gezeigt wird. Aber es ist das, was Tag für Tag dieses Leben aufrechterhält. Was Freude macht, was Trost gibt, was den Schmerz lindert. Was Frieden schafft. Es ist eine Kraft, die das Haus aufrecht hält, bis der Hausherr zurückkommt.

Die Kraft, die die Vergangenheit neu schreibt
Das ist alles gut und schön, so könnte man sagen. Aber es bleibt im Beschaulichen.
Wie soll daraus der Friede auf der Welt entstehen? –
Gar nicht! – Der Friede kommt von Gott. Aber wir hüten sein Haus, bis er kommt.
Noch ein Mittel zum Frieden hat uns Gott gegeben: die Vergebung.

Wer es erlebt hat, weiss um die Kraft der Vergebung. Sie kann eine jahrelange Last von der Seele nehmen. Sie kann einen Menschen aufatmen lassen, der schwer bedrückt ist. Manchmal greift ein solcher Kummer auch die Gesundheit an. Vergebung kann helfen, gesund zu werden. Vergebung öffnet neue Wege in die Zukunft, weil sie die Vergangenheit neu schreibt. Sie löscht jenes Ereignis in der Vergangenheit, das das Leben vergiftet. Sie heilt jene Verletzung, die Ohnmacht verbreitet. Vergebung kann das Leben neu machen.

„Wie oft soll ich vergeben?“ fragt Petrus. „Siebenmal?“ Da antwortet ihm Jesus: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzig Mal siebenmal.“ Und er erzählt im das Gleichnis von dem Mann, der seine Schulden nicht bezahlt hat. Sein Gläubiger will ihn hart anfahren und ihn und seine Familie in Schuldknechtschaft verkaufen. Aber der Mann wirft sich vor ihm zu Boden, er will alles bezahlen. Da hat der Gläubiger Erbarmen. Er lässt ihn frei und streicht sogar seine Schulden. Aber der Mann geht hin und treibt nun seinerseits seine Ausstände ein. Und als einer seiner Schuldner nicht zahlen kann, lässt er ihn ins Gefängnis werfen.

Das hört sein Gläubiger. Er stellt ihn zur Rede und wirft ihn ins Gefängnis. „Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast“ sagt er, „hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Schuldiger? So erzählt Jesus (Mt 18,21f).

„Multiplikatoren“ für den Frieden
Es ist ein Gleichnis für das Reich Gottes. Es zeigt, wie der Friede unter den Menschen wachsen kann. Einer vergibt dem andern, und dieser wieder denen, die ihm schuldig sind. Heute würde man von einem Schneeball-System reden oder vom Multiplikator-Effekt. Etwas beginnt im Kleinen und wirkt sich ins Grosse aus.

Das ist auch der Sinn von anderen Gleichnissen, die Jesus erzählt, z.B. wenn der das Reich Gottes mit einem Senfsamen vergleicht oder mit einem Sauerteig. Es genügt ein kleiner Anfang, aber es wächst ein grosser Baum daraus. Bald geht der ganze Teig auf.

Eine Bewegung, der die Zukunft gehört
Das macht Mut gegen die abschätzigen Bemerkungen, die wir oft hören: Was nützt es schon (wenn man sich engagiert)? Es ist doch nur ein Tropfen auf einen heissen Stein! – Wo eine grosse Kraft mit im Spiel ist, genügt ein kleiner Anfang.

Wenn wir allein sind, verlieren wir den Mut, wenn wir zu zweit sind, ist es schon anders. Und wenn wir uns einreihen können in eine grosse Bewegung, der die Zukunft gehört, dann macht es Freude, sich zu engagieren. Wir streuen einen Samen aus, der zu einem Baum wird. Dass er wächst, das machen nicht wir. Aber dass er dort vorhanden ist, wo wir leben, wo wir unsere Verantwortung haben im Beruf, in der Familie, das liegt bei uns.

Und so ist es nicht gleichgültig, wie wir uns verhalten. Und wenn jeder an seinem Ort wach ist, dann ist ein Wächter an jedem Ort. Und das Haus Gottes wird gut verwaltet, bis er wieder kommt. – Gott ist mit uns mit seiner Kraft.

Aus einem Gottesdienst zur Friedenszeit, 11. November 2007

(Am 11.11.2018 erinnerten sich die ehemaligen Kriegsparteien in Paris an das Ende des ersten Weltkrieges mit dem Waffenstillstand vom 11.11.1918.)