Verstrickt

Die Unschuld, mit der man am Morgen aufsteht und den Tag beginnt, hatte er verloren. Die Unbefangenheit, mit der man der Zukunft ins Auge blickt, war vorbei. Die Spontaneität, mit der man andern Menschen begegnet und ihnen das Beste zutraut, die hatte er schon lange verloren.

 

Der Bettag in seiner heutigen Form ist nicht von Kirche und Pfarrern begründet worden, sondern vom Staat. Wenn eine Notzeit war, rief die Obrigkeit die Untertanen auf, zu Gott zu beten, damit er das Unheil abwende.

Beten auf Geheiss der Regierung
Dass das auch heute noch geschieht, haben wir diesen Sommer erlebt. Als es in Polen so stark regnete, forderte die Regierung die Bevölkerung zum Gebet auf. Und als das Feuer in Griechenland monatelang wütete, sprach die Regierung von einer „von Gott gesandten Plage“.

In der Presse ist das nicht gut aufgenommen worden. Wenn man Fehler gemacht habe, könne man sich nicht hinter Gott verstecken. In Griechenland habe der Staat versagt. Die Wälder wurden vernachlässigt, hiess es. Der Abfall blieb liegen und geriet in Brand. Man sei auch nicht gegen Spekulanten vorgegangen, die auf den abgebrannten Grundstücken illegal Häuser bauten. Ähnlich bei den Überschwemmungen: Auch hier habe man Häuser in Risiko-Gebiete gebaut. Wenn diese überschwemmt würden, dürfe man nicht der Natur die Schuld geben.

Es sieht aus wie Natur
Tatsächlich kann man sich fragen, ob das „Natur“ ist, wenn Überschwemmungen wüten. Erinnern Sie sich an das Reaktor-Unglück von Tschernobyl? 1986 hat sich im dortigen Kernkraftwerk ein Unfall ereignet. Grosse Mengen radioaktiven Materials wurden in die Luft geschleudert. Danach konnte man am Fernseher verfolgen, wie sich die radioaktiven Wolken über Europa verbreiteten. Es sah aus wie „Natur“, es glich der Wetterkarte im Fernsehen, aber es war mensch-gemacht.

Als die Radioaktivität einmal freigesetzt war, konnte man sie nicht mehr kontrollieren. So dehnte sich die Tschernobyl-Wolke mit naturwüchsiger Gewalt über die Länder aus, dennoch war der Ursprung technisch. Es war eine Art Mischprodukt aus Naturgewalt und menschlicher Technik, eine „zweite Natur“. Aber die Schuld lag nicht bei der Natur, sondern beim Menschen.

Ähnlich ist es mit der heutigen Klimaveränderung. Sie geht auf menschliche Ursachen zurück, auch wenn die Folgen wie „Natur“ aussehen: wenn Wolken aufziehen, wenn es regnet. Das sieht aus wie die alte Natur, an die die Menschheit seit Jahrtausenden gewohnt ist. Aber es ist etwas Neues. Das Fehlverhalten verdichtet sich manchmal zu einer „Zweiten Natur“ und spult sich dann ab, losgelöst von dem, was man will, und trotz des Widerspruchs, den man vielleicht einlegen will. Aber das System hat sich verselbständigt.

Es sieht aus wie Natur, aber es kommt aus menschlichem Verhalten. Die Freiheit des Menschen ist nicht aufgehoben, sie steckt da drin. Die Zweite Natur ist die Verkrustung alter Entscheidungen, es ist das alte Kleid, das wir uns selbst geschneidert haben, es sind die Schuhe, die früher passten. Aber heute passen sie nicht mehr, und wir müssen unsere Füsse in Schuhe zwängen, die wehtun beim Gehen.

Verstrickt und lahm gelegt
Das ist nicht nur eine moderne Erfahrung. In der Bibel gibt es ein 2000jähriges Nachdenken über den Menschen: was ihn ausmacht, wie er lebt, was es braucht, dass es gut kommt im Leben und woher die Fehler kommen, die den einzelnen treffen, aber auch die ganze Gemeinschaft.

Im Verlauf dieser 2000jährigen Geschichte sieht man so etwas wie eine „Schuldvertiefung“. Anfangs drehte sich das Denken um die Fehler, die man im Moment macht. Wo ein böser Wille ist, geschehen auch schlechte Taten. Dann aber sah man, dass jene Fehler oft noch viel schlimmer sind, die beim besten Willen geschehen, wo wir aber wie verstrickt scheinen, so dass das Ergebnis doch schädlich ist für den einzelnen und für die Gemeinschaft.

Um diese Situationen zu bereinigen, braucht es nicht nur Vergebung, es braucht Heilung. Die Verstrickung selbst muss aufgehoben werden, die sich auch gegen den neuen, veränderten Willen des Menschen immer wieder durchsetzt. Der einzelne Mensch muss geheilt werden, die Gemeinschaft und die Natur des Menschen, die sich zu einer zweiten Natur gewandelt hat. In der Zweiten Natur – wir haben es gesehen – stecken die alten Taten des Menschen, aber sie haben sich verewigt, die neuen Taten kommen nicht dagegen an. Der beste Wille nützt nichts, man begeht Fehler. Wir werden objektiv schuldig, auch wenn wir subjektiv noch so unschuldig sind.

Vergebung allein hilft nicht weiter. Die alten Entscheide leben schon längst in allen Institutionen: in den Gewohnheiten, die das Verhalten eines Menschen prägen, in seinem Charakter, in denen sich die Gewohnheiten verdichten, in den Institutionen der Gemeinschaft, in der Art wie eine Zivilisation mit der Umwelt umgeht.

Der Bach gräbt sich sein Bett
Es ist wie ein Bach, der den Berg hinunter fliesst und sich einen Weg bahnt. Er gräbt sich selber ein Bett, wo er fliessen kann. Am Rand lagert er das Geröll ab. Zwischen diesen Ufern fliesst er. Zuerst ist es der Bach, der sich das Bett gräbt, aber später ist es das Bett, das bestimmt, wo der Bach fliesst.
Wer Herr ist und wer Knecht, wer befiehlt und wer gehorcht – das hat sich verkehrt. Wenn man der Welle sagt, ich will nach links, nützt das nichts. Man müsste das ganze Bachbett neu graben, um neue Wege möglich zu machen.

Diese Einsicht findet man auch im ersten Testament. Da klagen die Menschen: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf.“ (Jer 31,29 und Ez 18,2). Die Vorfahren haben die Umwelt belastet, die Kinder baden es aus.

Mit dieser Einsicht vertieft sich auch das Nachdenken, was denn nötig ist, um einen neuen Weg möglich zu machen. Vergebung allein reicht wohl nicht, es braucht mehr.
„Gib uns ein neues Herz!“ beten die Israeliten zu Gott. Nimm uns das steinerne Herz, das tut, was wir nicht wollen. Gib uns ein fleischernes Herz, so dass wir tun können, was richtig ist, statt dass wir uns immer wieder abmühen und ohnmächtig zuschauen müssen, wie immer wieder das Verkehrte herauskommt und wir schuldig werden beim besten Willen!

Schuld und Verstrickung
Die Menschen kommen mit einem Problem zu Jesus (die Lesung zitiert Mk 2,1ff). Ein Mann ist gelähmt, und er sagt zu ihm: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!

Die Menschen fühlen sich in Probleme verstrickt. Beim besten Willen geht es nicht vorwärts. Was man auch tut, es kommt verkehrt heraus – und er redet von Vergebung? – Haben wir nicht begriffen, dass Moral hier nichts bringt, es braucht Reformen, die bis ins Innerste gehen!?

Nein, sagt die Geschichte, es gibt einen Zusammenhang. Vergebung und Heilung sind nicht völlig verschiedene Dinge. Schuld und Verstrickung hängen in sich zusammen. Spaltung und Ohnmacht sind zwei Seiten einer Medaille. Es braucht Vergebung und Heilung, sagt Jesus. Und der Anfang ist Vergebung.

Vergebung ist die erste Stufe der Heilung. Was wieder in Ordnung kommen soll, beginnt damit, dass der Mensch im Innersten wieder ins Reine kommt: mit sich, mit den Mitmenschen, mit Gott. Und Heilung ist die zweite Stufe der Vergebung. Wo Vergebung erfahren wird, dieser Neuanfang im Innersten, da wirkt es auch nach aussen. Versöhnung hebt Spaltung auf, die Blockade fällt ab, die Lähmung wird geheilt.

Der Mensch, der im Reinen ist, wird frei. Er macht nicht, was er nicht will, und schaut sich verzweifelt dabei zu, wie Paulus es beschreibt in der Lesung (Römer 7,19). Paulus möchte gern das Richtige tun, aber bevor sein Wille beim Handeln angekommen ist, war etwas anderes schneller und hat die Situation schon geregelt.
So sind wir verstrickt in Strukturen des Unrechts und der Naturzerstörung. Und wir resignieren davor, denn „einer allein kann ja nichts tun“. – Jesus macht es anders.
Er beginnt mit dem einen.

Wie Vergebung wirkt
Was geht in einem Menschen vor, dem ein neuer Anfang geschenkt wird?
Da müssen wir noch einen Blick hinwerfen, um zu begreifen, wie Vergebung wirken kann. Und es ist für uns eine Gelegenheit, um in das eigene Leben zu sehen. Diese Geschichte will ja auch zu uns reden und zu der Not, in die wir uns verstrickt fühlen. (Das ist jene Frage im Leben, wo es bei uns nicht weiter geht). –

Es war ein Mann zur Zeit Jesu. Er lebte in einer Stadt nahe Jerusalem. Da hörte er eines Tages, dass Jesus vorbei komme. Von ihm hatte er schon gehört: dass er Wunder tue. Aber nicht das erhoffte er von ihm, dass er ein Wunder tue, er hatte gehört, dass er Sünden vergebe. Das wünschte er sich, dass er wieder mit sich im Reinen leben könnte, mit sich und Gott und mit den Menschen.
Diese lehnten ihn ab; alle wussten von seinem Fehltritt, darum hatten sie den Stab über ihm gebrochen. Darum getraute er sich nicht, Jesus entgegen zugehen, als er durch die Stadt zog. Er kletterte auf einen Baum. Von dort oben wollte er ihn sehen, dort oben wollte er dabei sein, wenn er kam.

Dann erzählt das Evangelium:
„Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, denn so hiess der Mann, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gaste sein. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt.

Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte von meinem Besitz will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, auch er ist ein Sohn Abrahams. Der Menschensohn ist nicht gekommen, um zu verurteilen, sondern um zu suchen und zu retten, was verloren ist. (Lukas 19, 1-10)

Bei einem Sünder ist er eingekehrt! Wir begreifen den Vorwurf, der in diesem Satz liegt. Es ist nicht gerecht. Wozu soll man sich anstrengen, wenn dieser es jetzt geschenkt erhält? Wozu all die Mühen im Leben, wenn es am Ende doch nach Sympathie verteilt wird? Was hat es gebracht, all der Verzicht im Leben, die immer neuen Anläufe, die Strenge gegen sich selber, die Härte, die man aufbringen musste, um auf dem rechten Weg zu bleiben – und jetzt das! –

Es ist nicht gerecht, nein, es ist barmherzig. Aber hat Gott seine Liebe an einen Unwürdigen verschwendet? – Was die andern draussen nicht sehen, ist das, was im Haus geschieht. Was die andern draussen nicht wissen, ist das, was sich im Herzen von Zachäus ereignet.

Er ist überwältigt. Das hatte er nie zu hoffen gewagt! – Er lag längst im Zwiespalt mit sich selbst, auch wenn andere ihn für einen einflussreichen Mann hielten. Er war voller Selbstzweifel, machte sich viele Vorwürfe – er getraute sich nicht mehr, andern Menschen in die Augen zu sehen.

Nein, sein Leben verdiente es nicht mehr, Leben zu heissen, auch wenn andere ihn für reich und glücklich hielten. Die Unschuld, mit der man am Morgen aufsteht und den Tag beginnt, hatte er verloren. Die Unbefangenheit, mit der man der Zukunft ins Auge blickt, war vorbei. Die Spontaneität, mit der man andern Menschen begegnet und ihnen das Beste zutraut, die hatte er schon lange verloren.

Er fühlte sich beobachtet und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Und er durfte niemandem die Schuld geben als sich selbst. Sein Leben war ihm bitter geworden, weil er nicht mehr mit etwas Gutem rechnete, weil er nicht mehr hoffen konnte, dass es doch noch gut wird mit dem eigenen Leben!

„Bei dir muss ich heute einkehren!“ Dieses Wort von Jesus war für ihn wie eine Begnadigung. So war er nicht unberührbar geworden, nicht aussätzig, dass alle den Kontakt zu ihm meiden mussten! Es gab Hoffnung für ihn!

Dieses Wort von Jesus war nur eine kleine Geste, aber sie hat ein ganzes Gebäude der Verzweiflung zum Einstürzen gebracht, und wir begreifen jetzt, wie Jesus durch eine blosse Berührung einen Menschen heilen konnte. Auch er zählte jetzt dazu, der sich schon verloren glaubte. Auch er ist nicht verurteilt, es kommt gut mit seinem Leben! – Eine ungeheure Freude erfüllte ihn, und dafür wollte er alles geben.

Mit den Leben ins Reine kommen
Sie ist ungerecht, diese Geschichte, aber sie ist nicht falsch. Nur die Reihenfolge ist anders als wir gewohnt sind. Wir sind gewohnt, dass wir das Gute als Lohn erhalten für eine Anstrengung. Aber hier kommt der Lohn zuerst und das Verdienst folgt hinterher.

So ist es auch mit der Busse, von dem der Dank-, Buss- und Bettag spricht. So ist es, wenn wir versuchen, mit unserm Leben wieder ins Reine zu kommen.

Wir können gar nicht mehr gerade machen, was wir vor 20 Jahren krumm gemacht haben. Nicht mehr ganz machen, was zerbrochen ist. Das Wort zurückholen, das beleidigt hat. Das Leben anders leben, als es gelebt worden ist.

Und doch ist es nicht hoffnungslos. Weil Er vergibt. Weil er uns nicht verwirft, sondern annimmt.

Und das, was alle Bitterkeit nicht zustande bringt: dass wir ein neues Leben beginnen, das ist möglich durch Güte und Barmherzigkeit. Und wir dürfen mit uns Frieden schliessen und mit den Mitmenschen. Wir dürfen andern Menschen wieder auf geradem Weg begegnen und ihnen in die Augen sehen, wir können uns aufrichten unter der Sonne.

„Gnädig und barmherzig ist Gott, geduldig und von grosser Güte. Er hält alle, die da fallen, und richtet alle auf, die niedergeschlagen sind.“ (Ps 145) Darum sagt der Apostel Paulus (Römer 2,4): „Verachte den Reichtum seiner Güte nicht. Denn Gott bewegt die Menschen durch Güte zur Umkehr. Er leitet sie durch Geduld und bringt sie durch Langmut ans Ziel.“ Und Jesus sagt es ganz kurz: „Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“

 

Aus dem Bettags-GD vom 16.9.2007