Wovon die Völker erzählen

Ob das Leben überhaupt zu gewinnen sei

Jede Kultur kennt diese grossen Gestalten. Da fragen sich die Menschen, ob das Leben überhaupt zu leben, ob die Aufgaben überhaupt zu gewinnen sind. Und sie buchstabieren es durch, am Leben grosser, paradigmatischer Gestalten. Das Schlimmste widerfährt ihnen – finden sie da heraus? Alle Übel, die je ein Mensch erfahren hat – und wenn sie um das Feuer zusammen sitzen und erzählen, dann bringt jeder noch seine Geschichte ein, seinen Stolperstein, über den er nicht hinwegkommt – alles wird in das Leben dieser Gestalten eingetragen. Und jetzt wollen wir sehen, wie sie herauskommen?!

Ist das Leben auf dieser Erde überhaupt zu leben? Ist die Aufgabe, die jedem von uns mit der Geburt gestellt wird, überhaupt zu lösen – oder ist das Ganze ein grosser Betrug?! Und dann lohnt es sich nicht mehr, davon zu reden. Dann wenden wir uns anderen, lohnenderen Dingen zu. Dann nehmen wir das Schicksal selber in die Hand. Dann verbünden wir uns mit dem Sinnlosen, denn es gibt keinen Sinn. Dann fügen auch wir andern Schmerzen zu, denn davon gibt es überreichlich auf der Welt. Und wer das Richtige tut, ist nicht davon verschont, denn das Richtige gibt es nicht. Was richtig ist, das bestimmen wir selbst.

An diesen Gestalten entscheidet sich, ob die Gesellschaft zusammenhält oder auseinanderfällt, ob sie ihre Werte verbindlich machen kann, oder ob die Menschen in die Wüste gehen und als Räuber und Mörder in die Dörfer einfallen. Darum erzählen diese Kulturen diese Geschichten mit einer Verzweiflung, als ob das Leben der Menschheit davon abhinge. Und sie hängt davon ab.

Aber sie machen es diesen Helden nicht leicht, ob sie nun Odysseus heissen oder Hiob oder Christus. Im Gegenteil. Obwohl sie mit jeder Faser ihres Lebens hoffen, dass ihnen der Weg gelingt, legen sie ihnen immer mehr Schwierigkeiten in den Weg. Sie sind grausam in dem, was sie ihnen zumuten. Und sie können nicht anders. Denn das müssen sie ebenso ernst nehmen wie ihre Hoffnung. Denn das ist ihr Leben, das ist ihr Scheitern, das ist ihre tägliche Verzweiflung. Und nur wenn der Held hier einen Weg sieht, dann ist auch ihr Leben gerettet.

Darum muss Odysseus zehn Jahre um die Welt irren, obwohl der Kampf bei Troja doch schon siegreich beendet ist. Aber kommt er heim? Gibt es ein Ankommen nach dem Weg, nachdem so vieles schon zu Bruch gegangen ist?

Darum prasseln die Schicksals-Schläge auf Hiob ein, darum hören die Hiobs-Nachrichten nicht auf. Denn das kennen auch die Menschen, die im Kreis sitzen und zuhören. Und sie wollen wissen, ob man das Vertrauen zu Gott auch behalten kann, wenn die Kinder umgekommen sind, und nicht nur eines, sondern alle. Sie wollen wissen, wie man lebt, wenn man alles verloren hat, Frau und Kind und Stelle, wenn man krank ist und obdachlos auf der Strasse sitze. Oder in der „Asche“ wie Hiob, wo es noch etwas warm ist. Der Penner geht zum Bahnhof, solange sie ihn dort nicht ausschliessen. Er legt sich mit seiner Kartonschachtel auf Lüftungs-Schlitze, aus denen warme Luft kommt.

Und der Hörer dieser Geschichte will wissen, ob der Gott, der hoch oben thront über den Lobgesängen der Väter, ob er so tief hinunter horcht. Ob er sieht und kommt und hilft und handelt. Ob er sich erbarmt und die Hand ausstreckt. Ob er ihn aufrichtet aus dem Staub, dass er gerade stehen kann. Ob er sein Haupt aufrichtet, das vor Scham und Schuld in die Erde gesenkt ist. Ob er ihn erhebt zu sich, dass er sitzen kann zu seiner Rechten, neben den Fürsten des Volkes. Ob er es wirklich tut, was er verkündigt: dass er ihm die Trauerkleider vertauscht durch Hochzeitskleider. Ob er ihm entgegen kommt wie dem verlorenen Sohn.

Er will wissen, ob Christus, der verlorene Sohn, der am Kreuz der Schande verloren gegangen ist, wieder aufgerichtet wird, dass er thront neben dem, der sich als sein Vater zu ihm bekennt. Ob er sein Fest ausrichtet wie zu einer Hochzeit. Und alle, die es sehen, staunen und sagen: „Ja, der Herr hat Grosses an uns getan, darum sind wir fröhlich! Er hat uns ein Lachen in den Mund gegeben und Jubel ist auf unserer Zunge!“

Das wollen die Menschen hören, die im Kreise sitzen. Sie hoffen, dass Odysseus durchkommt, und erfinden doch immer neue Verstrickungen für ihn. Denn ihr Leben ist so verstrickt. Das wollen die Menschen hören, die hoffen, dass Hiob seinen Glauben nicht verliert. Denn ohne Glauben ist kein Leben, da ist Heulen und Zähneknirschen. Und doch können sie nicht anders, sie müssen eine Hiobs-Botschaft auf die andere häufen. Auch ihre Not muss noch zur Sprache kommen. So lassen sie immer wieder einen Boten bei Hiob ankommen. Und sie erzählen von dem Mann, der wegging und nicht wieder kam. Von dem Mädchen, das allein in die Stadt fuhr und von einem Jugendlichen erschlagen wurde. Von den vielen Menschen, die auf einer Hochzeit tanzten, und die Decke ist eingebrochen.

Wer wüsste all die Hiobsnachrichten dieser Welt? Wer könnte sie ertragen? Aber dieser Hiob muss es tragen. Das wollen wir jetzt sehen, ob das Projekt Mensch überhaupt zu lösen ist oder ob es nur ein sadistisches Spiel ist, das ein Dämon mit uns treibt.

Ist die Welt ein guter Ort, wo man leben kann, oder ist es eine Hölle und ein Jammertal? Ist das Geheimnis dieser Welt lebensfreundlich? Ist da ein guter Gott, der hört und Antwort gibt und der Anfang und Ende in seiner Hand hält, oder versinkt alles in einem dunklen Loch?

So stehen sie auch am Weg, wenn Christus mit seinem Kreuz zur Hinrichtungs-Stätte geht. Sie möchten wohl, dass er durchkommt, dass er beweist, dass es diesen „guten Vater“ gibt, von dem er redet. Aber sie können nicht anders, sie schlagen auch ihre Nägel noch ein. Sie bürden ihm auch ihre Lasten noch auf. Sie schlafen nicht nur im Garten Gethsemane, sie bereden ihn auch, wenn er Blut schwitzt, und haben 1000 Gründe, warum es sinnlos ist auf Gott zu hoffen. Und wenn sie die Wahl haben, einen freizubekommen, dann wählen sie den Verbrecher. Und wenn Pilatus auf ihn zeigt, schreien sie: Kreuzige ihn! Denn so verraten zu werden, das haben sie auch erlebt. Sie wollen sehen, wie einer davon loskommt.

Sie spucken ihn an, denn Demütigung, das kennen sie. Ist solch ein Leben lebenswert? Wie geht so einer damit um, der von grossen Dingen redet? Die Folterknechte foltern ihn, aber das geschieht nicht nur in den Folterkammern dieser Welt. Auf dem Weg dahin stehen viele, die geben ihm noch einen Tritt, wenn sie das gefahrlos tun können. Sie stehlen sich in sein Haus und nehmen, was sie brauchen können. Sie verleumden ihn und machen ihn verantwortlich für die Verbrechen, die sie selber begangen haben. So lässt die Polizei sie in Ruhe, sie haben ja ihren Schuldigen.

Sie kühlen ihre Lust an ihm. Da ist doch etwas am Menschen, dass er gern quält und niedertritt und demütigt. Er hat Lust an sadistischen Spielen, und umso mehr, wenn das Opfer wehrlos ist. Wie ist es denn damit in der Welt? Ist Gott da sprachlos? Ist er ein Lieber Gott für die Kinderlehre oder kann er der Welt standhalten, wie sie heute halt ist? Und wenn wir die Welt zerstören, die Meere bis zum Überkippen belasten, die Luft verdrecken, den Boden vergiften, uns selbst als Menschheit ausrotten?

Was dann? was dann?

Anstelle von Hiob und Odysseus und Christus haben wir heute Therapeuten, die uns die Welt erklären. Aber sie lösen das Rätsel nicht auf. Und wenn wir noch erzählen könnten, dann würden wir diese alten Geschichten erzählen:
Wie einer vom Kampf heimkehrt, aber der Wind treibt sein Schiff aufs Meer hinaus.
Wie einer reich und angesehen ist, er hat Frau und Kind und alles gelingt ihm. Aber da bricht eine Not nach der andern über ihn herein.
Wie einer auf Gott vertraut. Und es ist Weihnacht als er ins Leben tritt. Aber sie bereiten ihm einen Karfreitag.

Wir wollen wissen: Gibt es einen Weg, wenn dieser zuunterst durchführt? Dass die Sieger siegen, wissen wir. Aber was geschieht mit den Verlierern? Dass die Smarten und Einflussreichen ihre Wege haben, ja, aber was ist mit denen, die keine Beziehung, kein Geld für Bestechung, kein Glück an der Börse haben? Deren Eltern kein Land hatten, das man teuer verkaufen kann. Und wenn sie das alles hatten – die so dumm und ungeschickt und glücklos waren, dass sie all das verloren hatten, und sei es noch durch eigene Schuld. Was ist mit denen? Gibt es da auch noch eine Antwort? Was?

Das Christentum erzählt davon. Es wird zu billig, das auch noch hinzuschreiben. Mache jeder sich selber auf den Weg.