Wozu die Passion betrachten?

Nun ist die Zeit wieder da, in der viele Menschen die Passion Christi betrachten. In den Kirchen werden Andachten gehalten, Chöre üben die Johannes-Passion ein oder ein anderes grosses Werk der Musikgeschichte. Was haben Menschen davon, wenn sie sich in die Passion vertiefen? Es ist nicht nur Tradition, es sind nicht nur ältere Menschen, die sich das „antun“. Die Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ war eine Passionsgeschichte und ein Riesenerfolg bei Jugendlichen. Der 2004 herausgekommene Film „die Passion Christi“ wurde einer der 30 kommerziell erfolgreichsten Filme überhaupt.

Die Menschen suchen das Schöne, sie sehnen sich nach Erfolg und Wohlstand und möchten in Frieden leben. Hier in der Passion ist alles anders. Alles Hässliche und Dunkle, was Menschen nur erleben können, ist hier versammelt. Als Pfarrer scheut man sich oft davor, davon zu reden. Aber diese Geschichte zieht die Menschen an. Woher die Faszination?

Die Passionsberichte sind die ältesten Teile der Evangelien, schon in der ältesten Zeit hat dieses Geschehen die Menschen gepackt. Durch all die Jahrhunderte blieb die Passionsbetrachtung eine Form des spirituellen Lebens, wo Menschen etwas fanden. Es ist nicht „Trost“, schon gar nicht Freude am Abartigen. Es ist etwas anderes.

Die Ruhe, die sich einstellt
Eher ist es so etwas wie Reinigung. Das ist ein seltsames Wort an dieser Stelle. Es meint eine Ruhe, die sich einstellt, wenn der Sturm verklungen ist. Alle Gefühle wurden aufgerufen im Mitgehen mit dieser Geschichte. Mit allen Emotionen war man beteiligt. Jetzt, unter dem Kreuz, kehrt Ruhe ein. Die Wut hat sich ausgetobt. Die Feindschaft ist am Ziel, Neid und Missgunst haben keinen Gegner mehr. Der Lärm der Verfolgung ist verstummt. Es kehrt Stille ein.

Passion heisst auf Englisch „Leidenschaft“, und tief ist der Brunnen der Gefühle, in die hier hinabgestiegen wird. Da sind Wut und Hass, Angst und Scham, bitterste Gefühle. Nicht immer gehen unsere Emotionen so tief. Der Alltag verschont uns gewöhnlich von solchen Erlebnissen, jedenfalls in einem friedlichen Land. Und doch gibt es in jedem Leben auch solche Erfahrungen. Sie graben eine tiefe Erinnerungs-Spur.

Hier darf es angesehen werden
Wir decken sie gerne zu, begraben sie tief unten. Denn eine Erinnerung geschieht nicht ohne Gefahr der Wiederbelebung. Und doch gibt es keine Heilung ohne dass dieser Weg noch mal gegangen würde. Hier darf es angesehen werden, im Schutz dieser grossen väterlichen und mütterlichen Kraft, die sagt: „Ich bin da!“.

„An dem Kreuz mit dir zu stehen,
unverwandt hinaufzusehen,
ist’s, wonach mein Herz begehrt.“

So heisst es imStabat Mater“, das wie die grossen Passionen zum „Musik-Schatz“ dieser Zeit gehört. So beginnt Heilung in der Passion unseres Lebens, es ist ein Stück von Ostern.

Ich bin es!
„Wahrlich ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten!“ sagt Jesus in der Matthäus-Passion von Bach. Und der Chor fällt ein: „Ich bin’s! Ich sollte büssen. Was du ausgestanden, das hat verdient mein Seel’.“ – Wer vor dem Kreuz steht, ist einbezogen ins Geschehen. Er befragt sich selbst, schaut auf sein Leben.

Die Passion nimmt den Betrachter mit auf einen Weg. Viele Stationen sind auf diesem Kreuzweg, jede hat ein anderes Gesicht. Reinigung heisst eine Station, Vergebung eine andere. „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, betet Jesus am Kreuz.

Es sind zehn Worte wie die zehn Gebote. Es sind zehn Planken zu einem Schiff, auf dem wir übers tiefe Wasser kommen. Denn so wie die zehn Gebote uns zeigen, dass wir immer wieder scheitern, so helfen die zehn Worte am Kreuz, dass wir dennoch Mensch bleiben dürfen, dass wir nicht aus der Gemeinschaft herausfallen, dass ein neuer Anfang uns geschenkt wird.

„Was hat er Übles getan?“ fragt Pilatus in der Passion. „Nichts“, singt der Chor bei Bach „Er hat uns allen wohlgetan, den Blinden gab er das Gesicht. Die Lahmen macht er gehend. Er nahm die Sünder auf und an, sonst hat mein Jesus nichts getan.“ Jesus wird zu Unrecht verfolgt, angeklagt und hingerichtet. Aber Gott kehrt sich zu ihm, er lässt ihn nicht im Dunkeln. Er stellt ihn ins Licht, er erhöht ihn und gibt ihm Recht.

Würdigung
Dass wir letztlich Recht finden, das ist eine tiefe Intuition von uns Menschen. Dabei geht es nicht um Rechtsfragen, wie ein irdisches Gericht sie klären kann. Es geht darum, dass wir in unserem innersten Kern erkannt und gewürdigt werden, dass das Leben, das in uns wie in jedem anderen lebt, sich entfalten darf. Diese Intuition wird verletzt, wenn ein Mensch ein schweres Schicksal erleidet. Das wird er vor kein Gericht ziehen, aber er hadert mit Gott. Denn nur vor diesem absoluten „Du“ werden wir die Menschen, die wir eigentlich sind. In Bezug auf ihn wird unser Leben so, wie es von seiner letzten Möglichkeit her gemeint ist. Das ist unsere Bestimmung, wie sie von Gott her gedacht ist. Und über alle Menschen hat Gott sein Schöpfungs-Urteil ausgesprochen: „Und siehe, es war sehr gut!“ (Gen 1,31).

Dass Christus „erhöht“ wird, das antwortet auf den Hohn und Spott, den er erleidet. Eines der verletzendsten Gefühle ist Scham. Wer blossgestellt wird, „verliert sein Gesicht“, er möchte am liebsten „im Boden versinken“. Da ist kein Boden mehr, auf dem er stehen könnte. Darum richten Menschen in einer solchen Situation manchmal die Hand gegen sich selber. Hier ist Linderung zu erfahren. Hier ist Antwort. Gott lässt den geschundenen Jesus nicht nackt und bloss, er legt ihm einen Mantel um, so wie er schon Adam und Eva mit Kleidern bedeckte, als sie sich schämten (Gen 3,21). Er erhöht ihn und würdigt ihn.

Ein Abstieg zu Gott
Es gibt verschiedene Wege zu Gott. Wir Menschen sind meist aufstiegs-orientiert. Die Passion ist eine Geschichte, die das Heil unter dem Bild des Abstiegs betrachtet. Es kommt zu uns, indem Gott sich zu uns hernieder lässt. Das erinnert an den Traum des biblischen Jakob. Der sah eine Leiter zwischen Himmel und Erde, und die Engel stiegen auf ihr auf und ab. Den Aufstieg suchen wir. Dass auch der Abstieg eine Zusage hat, vergessen wird. So geht es uns wie Jakob, und wir sagen:

„Wie furchtbar ist diese Stätte!
Und doch ist hier die Pforte des Himmels, und ich wusste es nicht.“ (Gen 28,16f)

 

„Er hatte weder Gestalt noch Hoheit, dass wir uns nach ihm umgedreht hätten, kein Ansehen, dass er uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, ein Mann der Schmerzen, vertraut mit Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,1f)