Freiheit

„Wie geht es Dir?“ frage ich einen Kollegen, dem ich unverhofft in der Stadt begegne. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Ein halbes Leben liegt dazwischen, sicher 30 Jahre. Er erzählt und irgendwann im Lauf des Gesprächs fällt der Satz: „In jedem Leben gibt es den Moment, wo Du nicht mehr ausweichen kannst.“

„Wie meinst du das?“ „Wenn du jung bist“, sagt er, „kannst du die Stelle wechseln, du kannst eine neue Beziehung anfangen, du kann abbrechen und neu anfangen. Du bist mobil und frei, die Welt ist offen. Es gibt 1000 Möglichkeiten. Und alles lässt sich revidieren, nichts ist für immer. Du kannst dich immer wieder neu erfinden und ausprobieren wie es ist. Die Auswahl ist ohne Grenzen. Aber in jedem Leben gibt es den Moment, wo das nicht mehr geht, wo du „gestellt“ wirst und dich „stellen“ musst.“

Wir sitzen in ein Café und er erzählt weiter. Bei den Indianern in Arizona gebe es eine Legende, warum Gott den Grand Canyon geschaffen habe: damit das Dorf nicht leer wird. Die Menschen seien immer wieder unzufrieden mit ihrem Schicksal, alle wollten weg, niemand wolle aushalten an seinem Ort, alle träumten davon, dass es anderswo besser sei. Darum habe er zwischen ihr Dorf und die Welt einen tiefen Graben gezogen. Damit das Dorf und die Welt erhalten blieben.

Einen solchen Graben wie den Grand Canyon, meint mein Kollege, findet jeder in seinem Leben. Es kann die Gesundheit sein, die nicht mehr mitmacht, oder der Beruf: dass er nicht mehr so einfach die Stelle wechseln kann. Er wird gestellt, dass er nicht weggehen kann. Vielleicht ist es auch eine Pflicht, die er übernimmt, eine Familie, eine Verantwortung für jemanden, der ihm anvertraut ist.

Und dann beginnt der „Dampfkochtopf“. Er begegnet all dem, vor dem er früher davon gelaufen ist. Das brodelt und kocht, das zischt und drückt, dass es fast den Deckel von der Pfanne sprengt. Er muss eine Antwort finden.

Irgendwann stellt sich der Mensch und entdeckt gerade in dem Unmöglichen, dem er bisher ausgewichen ist, eine Möglichkeit. Das ewige Abbrechen und Neuanfangen hat auf die Dauer nicht weitergeführt. Es war wie im „Eile mit Weile“: „zurück an den Anfang“, das Ewig-Gleiche. Er hat selber einen Graben um sich gezogen und sich blockiert. Aber jetzt, wo der Graben äusserlich gezogen ist, öffnet sich ein Weg, der weiterführt. Das ist mühsam. Denn bevor er dorthin gehen kann, wohin es ihn zieht, muss er hier ankommen, wo er nicht sein will.