„Ich gehe hin und komme zu euch.“

Das Leben ist oft so kompliziert. – Wenn Gott den Menschen schuf, konnte er nicht auch gleich eine Gebrauchsanweisung mitgeben? Die Geschichte der ganzen Menschheit läuft heute Gefahr, aus dem Ruder zu laufen. – Wenn Gott uns auf den Weg brachte, hätte er uns da nicht auch zeigen sollen, wo der Weg durchgeht?

Die Bibel berichtet nach dem Tod Jesu von seiner Auferstehung und Himmelfahrt. Der Glaube sieht ihn am Ziel, aber für seine Jünger war er nicht mehr hangreiflich gegenwärtig. Das Unterpfand fehlte, dass Gott mit ihm unterwegs ist und seinen Weg ans Ziel führt. Man konnte es der Welt nicht mehr ansehen, woher sie stammte und welches Ziel ihr bestimmt war. Und unser Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, unsere Sehnsucht nach Frieden, nach einer Welt, in der das Leben sich entfalten kann – das konnten blosse „Gefühle“ sein, ohne Beziehung zur Wahrheit dieser Welt. Man konnte als „naiv“ verlacht werden, wenn man von Wahrheit, Frieden und Gerechtigkeit sprach, während die Welt anderen Gesetzen zu folgen schien.

Die Kirche damals hat generationenlang mit dieser Frage gerungen. Was Jesus zu seinen Lebzeiten erzählte, erschien jetzt in neuem Licht, es wurde neu befragt und verstanden. Ein Ergebnis davon ist das Evangelium nach Johannes. Es lässt Christus selbst zu uns sprechen. Und bevor er uns verlässt, vor dem Beginn seiner Leidensgeschichte, nimmt Christus seine Jünger beiseite und bereitet sie auf das Kommende vor. Es sind die „Abschiedsreden“ in Johannes 14 bis 16. Christus hilft verstehen, was kommt, er bereitet seine Jünger vor, zeigt ihnen einen Weg, spricht ihnen seine Hilfe zu.

„Ich gehe“, sagt Christus, „aber ich werde euch nicht verwaist zurücklassen.“ Er bleibt gegenwärtig, aber in anderer Form. Gott ist nicht mehr „im Fleisch“ gegenwärtig, so dass man es mit Händen greifen könnte, sondern „im Geist“. „Ihr seid traurig, weil ich gehe, aber es ist gut für euch. Denn ich werde euch einen Beistand senden.“ Ob „im Fleisch“ oder „im Geist“ – in beiden ist Christus gegenwärtig, wenn auch in anderer Form. So kann er seine Rede geradezu in dem Paradox zusammenfassen: „Ich gehe hin und komme zu euch.“ (14, 28).

Ein erster Trost liegt hier darin, dass er die Zeit der Menschen, ihre Geschichte, in einem grossen heilsgeschichtlichen Aufriss deutet. Was immer geschieht, es ist die Geschichte Gottes mit den Menschen. In Christus ist er zur Welt gekommen und er wird wiederkommen.

Aber wir werden unsern Weg ja nicht nur geführt, wir müssen ihn gestalten und gehen. Wo finden wir Orientierung? „Ihr wisst den Weg“, sagt Christus. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (14,6). In diesen Aussagen über den Weg ist sehr viel Nachdenken, sind sehr viele Erfahrungen über den Weg des Menschen eingeflossen. Die ersten Christen nannten sich ja auch nicht „Christen“, sondern bezeichneten sich als „die, die dem Weg folgen“. Es geht um ein Praxis-Wissen, eine „Spiritualität“, wie man heute sagt, eine Haltung und eine Lebensweise, die Tag für Tag einen Weg weist, Kraft dafür mobilisiert und den Lebensweg in all seinen Herausforderungen einen Schritt weiterführt.

Natürlich gehört die Weisung dazu, die Orientierung für unser Verhalten. „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten…“ (14,23). Aber das Gebot allein führt nicht ans Ziel. Der Mensch als Handelnder kann die Kluft der Welt, den Abgrund zwischen der Welt wie sie ist und wie sie sein soll, nicht versöhnen, nicht einmal in seinem eigenen Wesen. Das ist ja der Grund, weshalb die Bibel von Erlösung spricht, weshalb Gott sich über die Menschen erbarmt und ihnen zu Hilfe kommt. „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ (14, 23).

Aber wie soll das zusammen gehen: das Handeln in eigener Verantwortung auf der einen Seite und das Vertrauen auf Erlösung auf der andern? Wer ohne Vertrauen auf die in Gott geschehende Versöhnung handeln will, der resigniert an den Widerständen der Welt. Wer auf der anderen Seite alles nur von Gott erwartet und keine eigenen Schritte tut, dem geht bald auch das Vertrauen-Können verloren. Beides geht ineinander und verbindet sich so zu dem, was die Bibel “Nachfolge“ nennt. Wir wissen den Weg, wie Christus sagt. Wir gehen auf einem Weg, der schon gepfadet ist. Er führt zu einem Ziel, das wir aus eigener Kraft nie erreichen könnten, und doch gehen wir Schritt für Schritt auf eigenen Beinen. „Nachfolge“ ist eine paradoxe Form der Lebenspraxis, wo Verantwortung und Vertrauen sich gegenseitig stützen.

„Und wir werden Wohnung bei ihm machen.“ Auch das ist Gegenwart Gottes in der Welt. In der Pfingst-Geschichte geht es darum, in der scheinbar „gottlosen“ Welt nach dem Tod Jesu die Formen seiner Gegenwart zu sehen und daraus Kraft zu geben und zu schöpfen. Wie lässt sich Erlösung denken? Wie können wir sie uns vergegenwärtigen, dass wir sie spüren, während wir noch mitten unterwegs sind? Wie können wir das Ziel vorwegnehmen, dass es uns Kraft gibt, während wir noch mitten in der Gebrochenheit dieser Welt leben?

Ein Bild, das Christus uns in seinen Abschiedsreden gibt, ist der Weinstock. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Schosse…“ (Joh 15, 1ff). Wer den christlichen Weg geht, wer Tag für Tag Kraft und Orientierung aus diesem Weg sucht, für den beginnt dieses Bild zu leuchten. In der Betrachtung dieses Bildes vom Weinstock spüren wir, wie wir getragen und gehalten sind. So wie am Anfang die Welt-Geschichte neu gesehen wurde, aus den Augen Gottes, so wird hier die Wirklichkeit ganz anders gedacht. Nicht in philosophischen Begriffen – als ob die Welt schon heil wäre und man sie nur noch zu beschreiben und zu erkennen brauchte, aber auch nicht nur in moralischen Kategorien – als ob das Handeln des Menschen allein die Welt retten könnte. Das Ineinander von Vertrauen und Verantwortung, das ans Ziel führt, ist hier in ein Bild gefasst: Christus ist der Wurzelstock, der Stamm, der uns trägt und nährt, wir sind die Schösslinge, die blühen und Frucht bringen sollen.

So kann er wirklich sagen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Er ist nicht nur der Lehrer, der Weisung erteilt, nicht nur das Vorbild für die Nachfolge, sondern auch der Wurzelstock, der uns nährt, der Stamm, der uns trägt. Er verändert mit seinem Kommen die ganze Wirklichkeit, so dass wir von der Wirklichkeit getragen werden und nicht aus ihr herausfallen können, was immer geschieht. In Gott sind alle Widersprüche versöhnt, er hat die Welt erlöst. Er ist mit uns auf dem Weg zum Ziel. In diesem Vertrauen können wir uns allen Konflikten unseres Lebens stellen, und der christliche Weg wird zu einem Lebensweg, der keiner Herausforderung ausweichen muss.

Das ist die Botschaft von Pfingsten: uns die Gegenwart Gottes in einer scheinbar gottlosen Welt spürbar zu machen. Der erste Satz der Abschiedsreden heisst: „Euer Herz erschrecke nicht…!“ und der letzte Satz: „Seid getrost…!“ So verwundert auch der Name nicht, den Johannes dem Heiligen Geist beilegt. Der Geist von Pfingsten heisst bei ihm der „Tröster“.

 

Aus Notizen 1999