Eine Apokalypse in Napoleonischer Zeit

Vor 200 Jahren starb Napoleon. Das Buch „Der Graf von Monte Christo“ erzählt von dieser Zeit. Es handelt von Rache. Sein Thema ist Gerechtigkeit. Sollte es das in der Geschichte geben? Von der Gerechtigkeit in der Geschichte handeln auch die biblischen Apokalypsen. Der Graf von Monte Christo erscheint wie eine Apokylypse der napoleonischen Zeit.

Als Bub verschlang ich das Buch, vor allem den Anfang: die Geschichte von Aufstieg und Neid, von Liebe und Verrat und was einen erwartet, wenn man von allen verlassen wird.Da ist der Abstieg in die Unterwelt, das Verlies, der Turm. Aber es findet sich ein Gefährte im Elend, der etwas weiss , vom dem die „oben“ keine Ahnung haben. Da ist der Sturz ins Meer, ein Grab, das zur Rettung wird. Es folgt die Schatz-Suche, der Reichtum und das neue Leben. Das waren mythologische Abenteuer, die eine Saite in mir weckten und an die archetypischen Bilder jenes Weges rührten, den jeder Mensch gehen muss.

Rache
Gar nicht verstanden habe ich damals die langen Rache-Phantasien, ich fand es schade, dass so grosse Teile des Buches dafür verwendet wurden, ich wäre viel lieber noch bei den Abenteuern geblieben.

Im frühen 19. Jahrhunderts schauten die Menschen auf ein Wechselbad zurück: auf „Ancien Régime“, Revolution, Terror und die Herrschaft Napoleons. Die Machtverhältnisse änderten sich in raschem Lauf: Napoleon wurde gestürzt, verbannt, kehrte zurück. Es gab die „Herrschaft der 100 Tage“ – und wieder Sturz und Einsetzung der alten Cliquen.

Da wurde gemordet und abgerechnet. Da wurden Nachbarn ausgeliefert, weil es jetzt so leicht ging durch eine anonyme Denunziation. Da konnte man Trittbrett fahren auf dem Zug der allgemeinen Geschichte und seine ganz privaten Geschäfte mit-erledigen. Viele ergriffen die Flucht. Nachts brach man auf, nur hinaus aus der Stadt. Wer konnte, nahm die Familie mit, wer nicht konnte, rettete seine nackte Haut. Später reiste man weiter, wer konnte ins Ausland, nach England. Da wurde vom Exil her intrigiert. Pakte wurden geschmiedet. Da gab es Rückkehr, Abrechnung, neue Einsetzung, Rückforderung der enteigneten Güter, neue Karrieren. Und kaum war es vorbei, ging das Ganze von neuem los.

Wie viel Verletzung! Wie viel Trauer und Wut! Wie viel Demütigung und verletzter Stolz! Wie viel Verlust und Traumatisierung, wie viele Menschen, die alles verloren! Die Bevölkerung wurde dezimiert. Die Bevölkerung war nachher jünger als in vielen andern Phasen der Geschichte.

Unten und oben
Noch viel Atavistisches steckt in dieser Geschichte, das beim Lesen wach wird und an das Abenteuer des Lebens erinnert: Tunnelgraben, Höhlengefühl. Ein Leben im Verborgenen. Sich-klein-machen, sich-tot-stellen und unterirdisch weiterleben – im Warten auf eine andere Zeit. Das Leben hat gelernt zu überleben. Es gibt nicht nur Kampf und Flucht, auch die Tarnkappe gehörte immer zu den Listen des Überlebens, das Verpuppen, eine Zyste bilden und auf eine Zeit warten, wenn die Umwelt wieder freundlicher ist.

Was er unten lernt, bringt ihn nach oben. Er kehrt zurück, belohnt und bestraft Es ist eine „End-Erzählung“ wie die Rückkehr des Odysseus: Hier werden die Bruchstücke zum Ganzen gefügt. Es ist die Apokalypse der napoleonischen Zeit, wo Recht gesprochen wird. Der Vater des Helden ist gestorben, er kommt nicht zurück. Aber er ist gerächt, er ruht in Frieden.

Der Seemann nennt sich „Graf von Monte-Christo“: Er zitiert den endzeitlichen Richter, der auf dem (Zions-) Berg sitzt, auf dem Regenbogen, und die Völker erscheinen vor ihm zum Gericht. Der Graf will nichts tun, als was zum Recht gehört und zur Gerechtigkeit.

Gerechtigkeit?
Er kommt wie der endzeitliche Richter. Er verkörpert ihn in säkularisierter Form, am „Ende“ jener Zeitenfolge, die Europa umgekrempelt hat: nach Revolution und Restauration und nach neuem Aufstand in der Juli-Revolution.

Aber er tut es als Mensch, er ist der Aufgabe nicht gewachsen. Sein „Gericht“ wird zu einer weiteren Folge in dem nicht abbrechenden Ablauf von Unrecht, Rache und neuem Unrecht. Sein Rückzug „an einen unbekannten Ort“ am Ende des Buches folgt nicht mehr dem mythologischen Fahrplan. Es ist der Rückzug des Machthabers hinter den Vorhang der medialen Aufmerksamkeit. Absolutes Recht, so lehrt diese Geschichte, ist nur religiös zu denken. Wenn es in dieser Welt durchgesetzt werden soll, wird es totalitär.

 

Aus Notizen 2013

Bild: Bonaparte auf der Brücke von Arcole, Gemälde von Antoine-Jean, 1801

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