Da werden die Steine schreien!

Eine seltsame Episode berichtet Lukas im Vorfeld von Ostern. Als Jesus in Jerusalem einzieht, bevor sich die Ereignisse dramatisch zuspitzen, die dann zu Karfreitag und Ostern führen, schreien die Steine.

Ist das die Trauer über den Tod oder die Freude über Ostern?  Jedenfalls etwas ungeheuer Leidenschaftliches. Es zeigt die Dimension an, von dem, was kommt. Es hat kaum etwas zu tun mit unserer gedämpften Osterfreude. Es steht total quer zu der Vergessenheit, wie wir heute in weiten Teilen mit diesen Festen umgehen.

Was geschah aber beim Einzug? – Lange hat er im Norden gewirkt, ist in Galiläa herumgezogen. Er heilt Kranke, tröstet Gedemütigte, verkehrt mit Ausgestossenen. Schnell verbreitet sich sein Name im ganzen Land. Er erinnert das Volk an vergangene Zeiten, als es in Frieden zusammenlebte und weckt neue Hoffnung. Johannes der Täufer, der dem König widersprochen hatte, sitzt im Gefängnis. Als er von Jesus hört, schickt er ihm seine Jünger entgegen und lässt ihn fragen: „Bist du es, der da kommen soll. Oder sollen wir auf einen andern warten?“

Diese Erwartung spitzt sich noch zu, als Jesus vor Jerusalem steht. Ist das jetzt die Entscheidung? Wird er in der Hauptstadt seine Herrschaft aufrichten? Die Menschen strömen ihm entgegen. Sie brechen Zweige von den Bäumen und winken ihm zu. Sie legen ihre Kleider auf die Strasse, damit er darüber reitet. Am liebsten möchten sie sich selbst unter seine Füsse legen, damit er schneller kommt. „Gelobt sei, der da kommt, im Namen des Herrn!“ Mit diesem Ruf wird ein Herrscher begrüsst, und die Oberen ärgeren sich darüber. „Meister, weise deine Jünger zurecht!“ sagen sie ihm.
„Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ (Lk 19,39f)

Was steckt in diesem Schreien? Davon berichtet Bibel auch an andern Orten.
Der Prophet Habakuk beklagt das Unrecht. „Herr, wie lange soll ich schreien, und du willst nicht hören? Wie lange soll ich zu dir rufen: «Frevel!», und du willst nicht helfen? Raub und Frevel sind vor mir. Es geht Gewalt vor Recht. Darum ist das Gesetz ohnmächtig, und die rechte Sache kann nie gewinnen.“ Reiche bauen ihr Haus mit Unrecht. Aber das Unheil schreit zum Himmel. „Weh dem, der unrechten Gewinn macht zum Unglück seines Hauses. Ja, der Stein in der Mauer schreit und der Balken im Holzwerk antwortet ihm.“ (Hab 2,9ff)

Es gibt Unglück zum Steinerweichen. Davon berichtet auch der Apostel Paulus, wenn er schreibt, dass die ganze Schöpfung seufze und sich sehne nach Erlösung. (Römer 8, 22f)

Richtet sich die Klage erst an Gott, so wird sie aufs neue laut, wenn ein Richter naht. Ihm kann es jetzt geklagt werden. Darum schreien die Steine, wenn Jesus einzieht. Da ist so viel Unrecht, das stumm gemacht wurde. Aber die Steine haben es nicht vergessen. Und die Balken verkünden es von den Häusern.

Mit dem Richter ist auch der Retter da. Darum mischt sich hier die Klage schon mit dem Jubel. Die Menschen freuen sich und lassen sich den Mund nicht verbieten. In der Bibel können sogar die Knochen jubeln. Und die Trümmer der zerstörten Städte brechen in Jubel aus, weil Gott kommt und sein Heil mit sich bringt: „Jubelt, ihr Himmel, und frohlocke, du Erde; und ihr Berge, brechet in Jubel aus! Denn Gott hat sein Volk getröstet, und seiner Elenden erbarmt er sich.“ (Jes 49, 13)

Diese Leidenschaft, die finden wir auch heute wieder: in der Zeitung, wenn wir Nachrichten hören. Ungeheuer ist das Leid der Welt, ein Hunger nach Gerechtigkeit. Ganze Landstriche sind verwüstet, der Friede in manchen Regionen ist für Generationen zerstört. Woher soll da ein neuer Anfang kommen?

Das ist die Ostererwartung, die Osterfreude – sie gilt der ganzen Welt. Gott ist ein gerechter Gott. Er sieht das Unrecht, er hilft den Armen. Durch Vergebung schenkt er einen neuen Weg, wo Rache und Vergeltung einen unlösbaren Knoten geschürt haben. Er ist der Herr des Lebens.

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“, fragt Johannes. „Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und berichtet dem Johannes, was ihr hört und seht. Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt, und Armen wird die frohe Botschaft gebracht, und selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“ (Mt 11,1ff)

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