Und sie standen auf

Das ganze Leben wird nochmals abgeschritten

Die zwei Jünger sind unterwegs. Sie sind auf der Flucht. Und es sind keine kleinen Sorgen, die sie in die Flucht schlagen. Es ist etwas – so schlimm, wie es in einem Leben vielleicht nur einmal vorkommt. Aber es reicht, dass dieses Leben auf immer verletzt wird. Da ist das innerste Geheimnis dieses Lebens angesprochen, der Kern, um den sich Fühlen und Handeln dreht. Die „Küche“, wo die Gefühle gebraut werden. Das bestimmt die Art und Weise, wie dieser Mensch später die Welt wahrnimmt, wie er auf andere Menschen zugeht.

Die zwei Jünger sind unterwegs. Sie sind nicht allein. Da ist einer, der das auch erlebt hat. Das ist ein Geschenk, sie bleiben mit ihren Erfahrungen nicht allein, sie können sich anvertrauen. Es bleibt ihnen erspart, denken zu müssen: Alle andern sind „normal“, nur sie sind verstört. Es bleibt ihnen erspart, sich selber immer abwerten müssen und zu zweifeln an dem, was sich so unzweifelbar eingegraben hat in ihre Erinnerung.

So gehen sie und reden und trösten sich gegenseitig. Auch wenn sie damit nicht zu Rande kommen. Ja, es gibt Dinge im Leben, mit denen man nicht zu Rande kommt. Sie sind zu gross, dass man sie begreifen könnte, zu schwer, dass man sie tragen könnte. Auch zu zweit gelingt es nicht. Alle grossen Konflikte dieser Welt sind von dieser Art, der Konflikt in Israel-Palästina, die Kriege und Bürgerkriege dieser Welt.

Da werden Menschen getötet. Menschen gehen auf andere Menschen los. Das Vertrauen ins Leben, das Vertrauen, dass der andere uns wohlwollend begegnet, wird zerstört. Wer überlebt, bleibt doch bis ins Innerste verletzt zurück. Es geschehen Verletzungen, die Jahre brauchen, bis sie verheilen. Ganze Generationen werden traumatisiert, das geht in die Geschichtsschreibung ein dieses Volkes. Und es braucht wiederum eine ganze Geschichts-Epoche, bis dieses Volk zum Frieden findet, bis die Menschen wieder lernen, vertrauensvoll aufeinander zuzugehen.

So reden die zwei Jünger und berichten sich von ihren Erlebnissen.
„Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.“
Jesus ist mit ihnen, aber sie erkennen ihn nicht. Im Dunkeln, wenn wir es nicht sehen, ist Gott doch am Werk. – Das ist schnell gesagt, aber glauben wir es auch?

Wenn wir an etwas Schweres denken, was wir erlebt haben – könnten wir das akzeptieren, wenn uns jemand sagte, dass da, gerade in diesem Moment, Gott mit uns unterwegs gewesen sei? – Fühlten wir uns da nicht allein und von Gott und Mensch verlassen? – War das nicht die grösste Verzweiflung: dieses Gefühl von Verlassenheit? – Soll da Gott bei uns gewesen sein? –

Aber warum hat er nicht geholfen?! So möchten wir rufen! Und die Jünger, die mit ansehen mussten, wie Jesus gekreuzigt wurde – warum hat er sich nicht gewehrt? Auch die Soldaten verhöhnten ihn und sprachen: Wenn du der Messias bist, so hilf dir selbst!

So grübeln die zwei Jünger auf ihrem Weg. Mit ihrer Vorstellung von Gott und Gerechtigkeit ist das nicht zu vereinbaren.
„Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.“

Alles wird nochmals angesehen
Jesus kommt zu ihnen und fragt sie, was geschehen ist. Sie reden, erzählen. „Bist du denn der einzige, der nichts davon gehört hat?“ Sie schauen alles nochmals mit ihm an. So auch wir, wenn wir Bilanz halten, am Abend eines Tages, am Abend eine Lebens, wir schauen alles nochmals mit ihm an.

Wir schreiten unsern ganzen Lebensweg nochmals mit ihm ab. Wir sehen, was wir gefehlt haben, wir sehen, was uns geschenkt wurde. Wir sagen Danke für das Schöne. Und die Vergebung, die wir erfahren, schenkt uns einen tiefen Frieden.

Gott hatte Geduld mit uns. Er hat vieles getragen. Hat uns getragen und ertragen.
Er hat uns nicht aufgegeben, nicht im Stich gelassen. Auch wenn wir uns selbst im Stiche liessen, auch wenn wir selber unserer Hoffnung untreu wurden, weil die Angst stärker war als alles andere.

Er war mit uns und bei uns. Und er ist auch jetzt dabei, wo es Abend wird und wir heimkommen möchten, ankommen am Ziel der Reise. Wir fühlen uns wohl, wenn er bei uns ist. Wenn er da ist, kann uns nichts geschehen. Wir bitten wie die Jünger:
„Herr, bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.“
Danke, noch sind wir nicht stark genug, alleine auf unserem Weg zu gehen. Noch können wir deine Gegenwart nicht sehen, Gott, noch fühlen wir uns verlassen, wenn wir alleine sind. Noch fällt das Dunkel über uns her, und Verzweiflung holt uns ein. Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.

Es reicht
Jesus war mit den Jüngern auf dem Weg, aber sie erkannten ihn nicht.
Erst beim Essen, da erinnern sie sich, erst als er teilt und austeilt, klingt etwas in ihnen an: Ist das nicht der, der uns immer gegeben hat?
Ist er nicht da, auch jetzt? Geschieht das nicht in seiner Kraft? Es geht ihnen wie dem Volk Israel in der Wüste. Als sie Angst haben, vor Hunger und Durst umzukommen, regnet es Manna.

Und es reicht für den Tag. Wir können es nicht für morgen aufstapeln. Es verdirbt über Nacht. Aber morgen, wenn wir den Tag anfangen, wenn wir uns bereit machen und auf das zugehen, was vor uns liegt, dann ist wieder Manna da. Da ist eine Quelle des Lebens. Sie ist unzerstörbar. Wir dürfen lernen, uns an sie anzuschliessen. Das tun wir, wenn wir Vertrauen haben zu ihr und der Angst widerstehen. Dann kommt diese Kraft ins Fliessen.

„Oh ihr Kleingläubigen!“ sagt Jesus, „eure Herzen sind zu träge, zu glauben!“
Endlich begreifen sie. Sie hören die Osterbotschaft: Glaubt es doch und habt Vertrauen! Euer Leben geht nicht verloren. Ihr seid gehalten, unverlierbar. Im Licht, wenn ihr es seht, aber auch im Dunkeln, wenn ihr es nicht seht. Ich bin da, wenn ihr es spürt, und ich bin da, wenn ihr es nicht spürt.

Zurück in die Stadt
„Und sie standen auf zu derselben Stunde und kehrten zurück nach Jerusalem.“
Sie kehren um. – Die Jünger kehren um nach Jerusalem, von wo sie geflohen sind.
Sie kehren um in das, was ihnen eben noch Angst machte.
Und das wurde die Bewegung für ihr ganzes Leben. Von diesem Moment an hatte ihr Leben eine neue Richtung: Nicht mehr davon laufen von dem, was ihnen im Nacken sitzt. Ihm entgegen gehen. In das hineingehen, von dem sie spüren, dass es richtig ist, und auf Gott vertrauen. So finden sie den Weg.

Das ist der Weg des Glaubens: Im Vertrauen auf Gott in das hineingehen, von dem wir spüren, dass es richtig ist, auch wenn es Angst macht. So finden wir den Weg.
Das heisst nicht, dass die Jünger keine Angst mehr gehabt hätten. Der Gedanke an Jerusalem liess sie immer noch zittern. Sie gingen hin und trafen die andern Jünger: „Jesus ist auferstanden.“

Auch ihr Leben ist von diesem Moment an neu geworden. Die tiefe Verletzung hatte nicht mehr diese Macht über sie. Sie haben Heilung erfahren. Damit Heilung geschieht, müssen wir manchmal in das hineingehen, was uns Angst macht. Wir können es im Vertrauen auf Gott. So geschieht Heilung auch heute, so geschieht ein Stück Auferstehung schon in diesem Leben.
Und wer es erfährt, dem wird das zur hellsten Erfahrung seines Lebens.

„Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, als er das Brot brach.“

 

Aus einem Abendgottesdienst 15. Februar 2009 – Der Weg nach Emmaus
Foto von Johannes Plenio von Pexels
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