Mythen und Tabus – ein Feindbild der Moderne

Die Rehabilitierung der Religion aus dem Geist der Aufklärung

Wer den Begriff „Tabu“ bei „Google“ eintippt und sich durch die Einträge klickt, dem fällt auf: Das Wort Tabu wird meist negativ verwendet, „Tabu-Bruch“ positiv. Das folgt dem aufklärerischen Erzählmuster vom Aufheben vormoderner Mythen und Denk-Verbote. Die gesellschaftliche Entwicklung wird als Prozess zunehmender Entmythologisierung und Enttabuisierung geschildert und die Begründungs- und Legitimationsforderung wird gestellt.

Die konservative Reaktion
Der Gestus des Entlarvens im Tabu-Bruch kann aber auch die Seite wechseln: So gibt es Tabubrüche auch im Umfeld populistischer Parteien. Die Medien berichten über die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Diese bricht immer wieder die Tabus deutscher Vergangenheitsbewältigung. Sie zitiert NS-Gedankengut, leugnet die Geschichtsdarstellung der Nachkriegszeit, als ob sie einem revisionistischen Geschichtsbild zuneigte, in dem es keine KZs gab und keine Judenverfolgung und die Minderwertigkeit anderer Völker eine ausgemachte Sache wäre. Zur Rede gestellt, bezeichnen Parteivertreter das als blosse Medienstrategie. Ohne Tabubruch hätten sie keine Chance auf Beachtung.

Tabubruch in der Werbung
Der kalkulierte Tabu-Bruch folgt hier keiner emanzipatorischen Logik, er schreibt nicht das Narrativ der Aufklärung weiter, sondern steht im Dienst einer konservativen, populistischen Agenda. Der kalkulierte Tabubruch ist vor der politischen Werbung schon im Kommerz entfaltet worden.

Ältere erinnern sich an die Benetton-Reklame. Sie hat immer wieder mit makabrer Werbung für Aufmerksamkeit gesorgt. Das war ihre Masche, durch einen Skandal ins Gespräch zu kommen. Der gezielte Tabu-Bruch dient als „Hingucker“. Er führte zu einer Flut von „Tabubrüchen“, die die Waffe inflationär entwerteten und für den emanzipatorischen Kampf wertlos machten.

Tabu in der Moderne?
Die Verwendung des Tabubegriffs in unserer Kultur wirkt von Anfang an widersprüchlich: Da ist ein archaischer Begriff aus einer Südsee-Kultur – aber Karriere macht er in der westlichen Moderne. Da ist ein religiöses Konzept – aber Verbreitung findet es in einer Kultur, die sich die Religionskritik auf die Fahnen geschrieben hat. – Wie ist das zu verstehen?

Der Tabubegriff wirkt archaisch und uralt, in Europa wurde er aber erst Ende des 18. Jahrhunderts bekannt, als Entdecker von der „Südsee“ berichteten, worauf er schnelle Karriere machte. Die Berichte entflammten die Phantasie der Europäer. Einer wollte in der Südsee ein „modernes Arkadien“ entdeckt haben, ein anderer schrieb von einem „Garten Eden“. Da lebten Insulaner, die noch nicht von der Zivilisation verdorben seien. Der Aufklärer Denis Diderot wurde von diesen Berichten inspiriert zu einer Schrift über „freie Sexualität“. Später trug der französische Maler Paul Gaugin viel zur Südsee-Begeisterung bei. „Die „glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien kennen vom Leben nichts anderes als seine Süsse“, schrieb er einem Malerfreund.

Das Wort „Tabu“, als es in den Westen kam, wurde also von einer ganzen Welt von Vorstellungen begleitet. Da war das Archaische, Vormoderne, das Paradiesische, was man sich ersehnte. Der Westen, der diese Vorstellungswelt schuf, definierte sich aber nicht durch das Wunderbare, sondern durch die Vernunft, nicht durch „Mana“, sondern durch die Kraft von Industrie, Welthandel und Imperialismus, nicht durch Mythen und die Ahnungen der Religion sondern durch den Diskurs der Aufklärung, wo nichts gelten sollte, was sich nicht vor der Vernunft rechtfertigen konnte.

Tag und Nacht
Tags bekämpfte man Mythen und Religion, nachts träumte man von ihren Segnungen. Das sind Bilder von einem richtigen und ganzen Leben, das nicht zerteilt und entfremdet ist durch eine moderne Wirtschafts-Gesellschaft.

Solche Intuitionen vom Gelingen des Lebens sind denk- und lebensnotwendig. Man kann sie gar nicht ausrotten. Aber in jener Zeit konnte man diese Intuitionen nicht mehr nach den kulturellen Massstäben begründen, die damals galten. Man konnte sie nicht für den Verstand annehmbar machen. Und so blieben Vernunft und Sehnsucht voneinander gespalten. Glück und Erfolg fanden nicht zusammen.

Tabu – ein moderner Begriff. Thesen
Das „Tabu“ und der Zauber, den es evoziert, gehört nicht zur Welt der primitiven Religionen, sondern zur Welt der „aufgeklärten“ säkularen Gesellschaft.

Es ist ein Spiel mit vor-aufgeklärten Residuen, ein Symptom für eine „unglückliche Aufklärung“, weil sich in ihren Gesellschaften viele Menschen zurücksehnen nach einer Welt einfacher Geltung. Das zeigt den tief gespaltenen Charakter dieser Kultur, die sich aufgeklärt nennt und über religiöse Sehnsucht nie hinauskommt.

Die Religion verwaltet „das Ganze“ und „Absolute“. Das ist in säkularer Sprache nicht zu bekommen. Im Gegenteil, hier übt man sich in Enthaltsamkeit und verzichtet auf alle Wonnen der Metaphysik (wie Geborgenheit, Sinnhaftigkeit, aufgehoben zu sein, ein Ziel zu haben, einen Zweck und eine Würde, die über alles hinausgeht, was die Welt geben oder absprechen kann.)

Das Ganze und das Absolute – die Geschichte hat uns gelehrt, aufzumerken, wo das in nicht-religiösem Gebrauch auftaucht. Denn die aufklärerische Entmythologisierung ist einhergegangen mit einer Verlagerung des religiösen Zaubers. Endliche Gebilde haben das heimatlos gewordene Absolute aufgenommen und sich mit Bedeutung aufgeblasen. Das Absolute, wenn es von endlichen Grössen dargestellt werden soll, wird totalitär. Es entstehen Ideologien, die beanspruchen, Gerechtigkeit, Heil und wahre Gemeinschaft mit endlichen Mitteln herzustellen.

Es ist diese Erfahrung mit totalitären Gebilden im 20. Jahrhundert, die die Metaphysik-Kritik in unserem Jahrhundert neu belebt hat. Man begegnet jedem Versuch, etwas Nicht-Säkulares, Nicht-Empirisches erkennen zu können, mit fundamentaler Kritik. Ein weltanschaulicher Skeptizismus gehört zur Grundausstattung westlicher Gesellschaften. Aus Angst vor dem Rückfall in eine totalitäre Wahrheits-Behauptung bestreitet man die Möglichkeit von Wahrheits-Erkenntnis überhaupt.

Damit kann man jeder autoritativen Versuchung durch eine Weltanschauung die Spitze brechen, man untergräbt aber auch die Fundamente, auf der die Gesellschaft steht. Diese brauchen Begründung und Bejahung, ein Skeptizismus lässt sie Hunger leiden. Das liefert die jungen Menschen erst recht den Heilsangeboten anderer Kulturen und Ideologien aus. Der „Westen“ verliert seine Jugend.

Die Scheidung von Tradition und Moderne ist nicht erledigt
Der Scheidungsprozess zwischen Moderne und Vormoderne, zwischen „aufgeklärter“ Kultur und Religion ist noch nicht befriedigend gelöst. Es sind gemeinsame Kinder vorhanden. Das Sorgerecht ist nicht geklärt.

Solange die Kultur mit ihrer aufgeklärten Tradition keine bessere Scheidung von der Religion vollzieht, solange nicht genauer bestimmt wird, wer wofür zuständig ist, bricht der Streit immer wieder auf, er muss aufbrechen.

Solange nicht genau geschieden wird, wo Metaphysik mit ihren absoluten Gehalten, mit ihrem Reden von Ganzheit und Totalität leben darf und wo nicht, solange leben religiöse Impulse unkontrollierbar fort – wie Kriechströme, die unsichtbar durch den Boden gehen – bis jemand sich einen tödlichen Schlag holt, nur weil er ein Stück Metall anfasst.

Menschen können gar nicht weniger hoffen, als dass das Leben gelingt. Hoffnungen und Intuitionen wie Gerechtigkeit greifen immer ins Absolute über. Diese Hoffnungen, v.a. wenn die Zeiten düsterer werden und Konflikte zunehmen, werden politisch bewirtschaftet. So ist es keine überflüssige Angst – der Kontinent hat es schon einmal durchgespielt – dass Politik und Gesellschaft wieder ins Totalitäre kippen.

Der Gegner ist nicht die Religion. Die Religion ist eine Weise, mit den absoluten Hoffnungen der Menschen symbolisch umzugehen, ohne sie in der empirischen Welt erzwingen zu wollen. Religion realisiert das Absolute in Symbolen und Riten, nicht in empirischen Zwangsveranstaltungen. Der Inbegriff des rechten Lebens ist das „Reich Gottes“, das von Gott her erwartet wird und nicht von irgendeiner Partei oder einer politischen Schutzmacht.

Der Gegner ist nicht die Religion, es ist eine blind gewordene Traditionskritik, welche die Grundlagen aufhebt, von der sie selber lebt. Wo diese Feuerwalze durchging, bleibt nur verbrannte Erde, wo kein Baum mehr wächst. Es ist an der Zeit, die Religion zu rehabilitieren – gerade aus dem Geist der Aufklärung, die dem Menschen ein Dasein in Würde ermöglichen will.

 

Nach einem Referat zur Ringvorlesung „Tabu und Tabubrüche“ an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

 Foto Saluafáta auf Upolu (Samoa-Inseln) um 1908, gemeinfrei