Wie Trinken für den Verdurstenden

Hat die Phantasie noch einen Platz im Glauben? Die Bibel gibt ihr Platz. So findet sie Zugang zu den Menschen. Sie hebt deswegen nicht ab in esoterische Geisteswelten. Gerade die grossen Fragen dieser Zeit, die harten Fragen der Geschichte, finden so eine Antwort. Selbst die «Höllenfahrt», in der die Passion kulminiert, ist verankert in leidvollen Erfahrungen auf dieser Welt, die hier eine Antwort brauchen.

Im Halbschlaf sehe ich Bilder, wie Christus zur Unterwelt kommt. Die Antike hat das geliebt, diese mythologischen Bilder, die das konkret vor Augen stellen: wie der Erlöser ankommt bei den Verdammten! Diese Freude, schon die Vorahnung! Und wie es dann geschieht! Sie malen es aus, sie freuen sich an jedem Schritt!

Da sind die hundert und tausend Sachen, die früher unüberwindlich waren. Jetzt ist der Schmerz dahin! Sie sitzen im Dunkeln, sie suchen Gott und fluchen ihrem König (Jes 8,21f). Aber da ist etwas: Sie sehen von Ferne einen hellen Schein. Sie hören eine Stimme. Etwas Ungeheures geschieht! Da brechen die Tore zur Hölle auf. Was niemand je zu denken wagte, geschieht! Was jede Vorstellung übersteigt, ist Wirklichkeit geworden!

Der Engel in der Geschichte
Kann der Tod aufgehoben werden? Kann die Zeit rückwärtslaufen? Gibt es einen Schlüssel zum Schlund der Geschichte, wo alles hinab gezogen wird, was war?

Hat das Schicksal nicht das letzte Wort? Kann das Unabänderliche verändert werden? Gibt es Einspruch gegen all die Qual, das Unrecht dieser Welt?

Sollten auch die Mächtigen noch einen Richter finden, die schon lange gestorben sind, die ihren unrechten Gewinn verprasst haben und Unschuldige getötet? –

Das Unüberwindliche wird aufgebrochen. Das eherne Gesetz ist gelöst. Nichts kann ihm widerstehen. Da sind die Menschen, die auf ihn gewartet haben:
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“

Zachäus klettert auf seinen Baum, damit er besser sehen kann. Und da kommt er. Er reitet auf einer Eselin, auf dem Füllen einer Eselin. Sollte das ein König sein, der die Machthaber das Fürchten lehren kann? Er zieht durch die Tore ein.
Und „Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt.“ (Mt 11, 1ff)

Vergangenheit und Zukunft
Sind etwa nur die dabei, die jetzt leben? Haben jene Pech gehabt, die vorher waren? Gilt das etwa nicht für die Geschlechter, die nach ihm kommen?

Er schreitet an der Reihe der Menschen vorbei. Da sind alle, die waren und die kommen. Und er nimmt Adam und Eva bei der Hand und führt sie heraus. Und mit ihnen alle, die nach ihnen gekommen sind oder noch kommen werden.

Im apokryphen „Evangelium nach Nikodemus“ taucht auch der Schächer vom Kreuz noch auf. Keiner wird vergessen. Er wird aufgenommen ins Paradies. Die Ikonen werden diese Szene verherrlichen. Es ist der Triumph Christi über alles Dunkle in der Welt. An seine Seite malen sie stets Dismas, den Schächer. Er hat die Verheissung bekommen: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Und mit ihm alle, die auf ihn vertrauen.

Die fromme Phantasie
Die fromme Phantasie muss das weiterspinnen. Sie muss es ausmalen. Es hilft auf dem Weg. Es ist wie Trinken für den Verdurstenden, wie Essen für den Hungrigen, wie Ehrerbietung für den Gedemütigten, wie Trost für den Traurigen. Wie Wasser auf die ausgedörrte Erde.

Er kommt zu den Verdammten. Das ist der Ort, wo sein Evangelium verstanden wird. Das ist ihre Sehnsucht, eine Welt, die dieser Regel gehorcht! „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen.“ (Mt 5,43f) Hier ist die Bergpredigt verständlich. Hier stört sich niemand an ihrem absoluten Ton. Hier fragt niemand: ob das denn auch lebbar sei? Hier ist Heulen und Zähneklappern. Selig sind, die daran Anteil haben. Da ist jedes Wort eine Labsal. Davon lebt die Welt. Das ist die Hoffnung der Generationen von Anfang an.

Die Hörer des Evangeliums
Das sind die Hörer des Evangeliums. Von ihnen spricht Christus in den Seligpreisungen:

«Selig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.
Selig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten,
denn sie werden gesättigt werden.»

 

Nach Notizen 2014

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Bild: Maestro dell‘ osservanza, discesa al limbo