Oben und unten in der Kirche

Für eine Ausstellung wurde die alte Kanzel in der Kirche wieder aufgestellt. Gewöhnlich wird hier aber von unten gepredigt. Hat das was zu bedeuten: ob in der Kirche «von unten» oder «von oben» gepredigt wird?

Im 19. Jh. verbreitete sich die Kirche weltweit. Die westliche Kultur gelangte mit den Kolonien in die ganze Welt und die Kirche missionierte in diesen Gebieten. Auch zuhause verbreitete sich das Christentum. Man unterrichtete es in den Schulen. Die Bildung verbreitete sich in allen Gesellschaftsschichten. Die bürgerliche Kultur blühte. Alles wurde „humanisiert“.

Fortschritt
Und es gab viele Theologen, die dachten, dass die Gesellschaft sich durch diesen Fortschritt immer mehr dem Reich Gottes annähern könne. Eines Tages – so dachte man – braucht es die Kirche nicht mehr. Die Welt ist christlich geworden, und die Kirche kann absterben. Das war die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts.

Dann kam der 1. Weltkrieg. Und die jungen Theologiestudierenden erlebten, wie ihre Lehrer in die Kriegsbegeisterung einstimmten. Es war wie ein Fieber, das alle gepackt hatte. Da erfüllte auch die Kirche ihren patriotischen Auftrag. Es wurden Kanonen gesegnet, man betete für den Sieg. Der Krieg endete in einer bis dahin nicht gekannten Katastrophe mit Millionen von Toten und einer ungeheuren Not. Europa hatte sich total verändert, Könige und Kaiser waren gestürzt. Es war eine Zeit der Krise und der Besinnung.

Zweifel
Das Bild vom Menschen war zu tiefst erschüttert. Man konnte ihn nicht mehr so optimistisch beurteilen. Zu tief waren die Erschütterungen durch die Kriegsgräuel. Die Menschen teilten den alten Fortschrittsoptimismus nicht mehr. Niemand glaubte mehr, dass die Menschheit durch steten Fortschritt dem Reich Gottes entgegenwachsen könne.

Nicht „von unten“ kommt das Reich Gottes, es kommt „von oben“. So drückte es Karl Barth aus, einer der Wortführer dieser Wort-Gottes-Theologie nach dem ersten Weltkrieg. Und der zweite Weltkrieg bestärkte die Menschen in dieser Weltanschauung.

Christus kommt uns mit seinem Reich von der Zukunft her entgegen. Die Gerechtigkeit wächst nicht einfach mit in der Geschichte. Der Friede ist ein Geschenk Gottes. Und das Paradies kommt nicht aufgrund des menschlichen Fortschritts. So dachte man jetzt. Wenn die Pfarrer früher von der Kanzel herab predigten, dann hatte das also eine tiefere Bedeutung. Das Wort kommt „von oben“, von Gott her, in die Welt. Das wollte man zeigen. Sein Reich wächst nicht „von unten“ her.

Fortschritt
Die 60er Jahre brachten einen neuen Umschwung. Das Klima des Denkens veränderte sich. Der Friede dauerte schon 20 Jahre an. Der Wohlstand verbreitete sich. Die Welt war schön. Man konnte sich Urlaub leisten und am Strand in Italien in der Sonne liegen, man konnte das Leben geniessen.

Man verstand die alten Prediger nicht mehr. Sie schienen die Welt immer nur schlecht zu machen. Statt vom „Diesseits“ redeten sie von einem „Jenseits“, statt von der Freude von der Sünde. Die Erde war kein Jammertal. Man wollte eine Religion der Freude. Der Mensch sollte nicht immer schlecht geredet werden, man sollte ihm etwas zutrauen. Dann kann er sich auch entfalten und entwickeln.

Konnte man nicht jeden Tag sehen, wie der Fortschritt die Welt veränderte?
Man baute neue Kirchen, aber nicht diese verschnörkelten alten Gemäuer, sondern helle Räume, mit Licht und Farbe und klaren Linien. Damals holte man die Kanzeln herab, und man verstaute sie im Keller.

In der Katholischen Kirche gab es in jener Zeit etwas Analoges. Die Gebetsrichtung wurde umgekehrt. Beteten die Priester früher mit dem Rücken zur Gemeinde, so drehten sie sich jetzt um, mit dem Gesicht zur Gemeinde. Der Altar, der früher an der Ostwand stand, wurde nach vorne gerückt, so dass die Priester zur Gemeinde schauen konnten.

Dahinter stand auch eine neue Sicht auf das Diesseits. Der Gottesdienst sollte für die Menschen da sein. Sie waren das „Volk Gottes“. Man konnte ihnen doch nicht den Rücken zukehren, als ob sie nicht beteiligt wären. Ihnen galt doch die Verheissung. Darum gab man auch die lateinische Messe auf und predigte in der Volkssprache. So war es um 1970, als in unserer Kirche die Kanzel demontiert und in den Keller versorgt wurde.

Wer hat nun recht? Die, die das Wort von oben her predigen wollen – oder die, die den suchenden Menschen ins Zentrum stellen?

Zweifel
In optimistischen Zeiten vertraut man mehr auf die Kraft des Menschen. In Krisenzeiten hofft man auf Gott und sein Eingreifen. Das ist ein Pendelschlag in der Geschichte der Frömmigkeit. Heute wird der alte Fortschritts-Optimismus nicht mehr so laut vorgetragen. Viele Menschen zweifeln, ob die Menschheit ihren Weg aus eigener Kraft finden kann. An vielen Orten erfahren wir heute unsere Grenzen.

Der Kernreaktor von Fukushima ist heute, zwei Monate nach dem Unglück, immer noch „ausser Kontrolle“. (So ist es auch im Jahr 2020 noch. Das Wasser für die Kühlung der Atommeiler wird aufgefangen, damit es nicht in die Umwelt gelangt. Die Speicher für strahlendes Kühlwasser sind 2022 ausgeschöpft.) Es ist ein Symbol für viele Entwicklungen, die heute „ausser Kontrolle“ scheinen. Man versucht, den Schaden einzugrenzen. Darum haben wir heute einen Pendelschlag zurück. Man fragt wieder nach den alten Werten, will nicht immer weiterfahren im alten Stil. –

Es braucht beides: die Kraft des Menschen und die Hilfe Gottes. Es braucht „oben und unten“. Der Glaube kann nicht nur von oben verkündet werden. Er wächst auch nicht nur von unten. Der Glaube kann nicht in der Luft leben. Er muss herabkommen und sich „inkarnieren“ in dieser Welt. Und die Menschen suchen für ihren Alltag Hilfe von oben, im Glauben. Darum muss der Glaube die Sprache des Alltags kennen: alle Sorgen und Nöte, aber auch die Freuden des Lebens, und was uns Hoffnung schenkt und uns glücklich macht.

Ein Sonntag zum Gebet
Der heutige Sonntag heisst in der Tradition Sonntag „Rogate“, rogate – „betet“. Der Name kommt von einer alten Tradition: Früher machte man an diesem Sonntag Flur-Umgänge. Man schritt in Prozessionen um die Felder und Wiesen der Gemeinde und betete um Regen und gutes Gedeihen. Die Fürbitte hat diesen Sonntag geprägt.

Das können wir heute gut verstehen nach der langen Trockenheit, die hinter uns liegt. Flüsse, Seen und das Grundwasser haben zu wenig Wasser. Es wird zum Wassersparen aufgerufen.

Dass man gemeinsam für etwas betet, das haben wir diesen April erlebt. Nach dem Erdbeben in Japan, mit dem Tsunami und der Atomkatastrophe, waren die Menschen auf der ganzen Welt geschockt. Viele Menschen auf der ganzen Welt haben da gebetet, für die Menschen in Japan. Es war vielleicht das grösste weltweite Gebet, das es je gegeben hat – in allen Ländern, in allen Religionen. Es wurde nicht organisiert und angeleitet. Aber wer je beten gelernt hat, der hat damals gebetet, für die Menschen in Japan.

 

Nach einem Gottesdienst zum Sonntag Rogate von 2011
Ein Teil dieses Gottesdienstes ist bereits auf dem Blog publiziert worden: Zu Jesus beten?

Foto von Tom Fisk von Pexels