Das erste

Liebe ist das erste, was wir erfahren, als Kinder unserer Eltern. Und wenn wir sie vermissen, dann ist sie das erste, was wir vermissen. Liebe, ob wir sie erleben oder vermissen, ist etwas Zentrales. Sie ist ein allererstes Lebensbedürfnis.

 

Wenn zwei heiraten, dann wollen sie nicht hören, dass statistisch gesehen jede zweite Ehe in der Schweiz auseinandergeht. Sie glauben an die Liebe, sie beschwören sie und sie feiern sie mit ihrer Hochzeit. Und selbst wenn es ganz und gar unmöglich wäre – wenn alle Erfahrung zeigen würde: so etwas wie die Liebe gibt es nicht – dann würden wir gegen alle Erfahrung anglauben, an die Liebe.

Wir glauben an die Liebe
Wie glauben an die Liebe. Ein Glaubens-Bekenntnis sagt nicht, was es „gibt“ auf der Welt. Es sagt, woran wir glauben. Wir brauchen es zum Leben. Und es stiftet immer wieder Leben. Wo wir den Glauben aufgeben, ziehen wir uns zurück. Wo wir resignieren, geben wir auf. Wo wir zweifeln und verzweifeln, hört alles auf. Aber mit jedem Stück Glauben beginnt etwas Neues. Das Leben bekommt eine Chance. Die Liebe kriegt einen Ort.

Hier kommt der Glaube an Gott ins Spiel. Psychologen sagen: Wer im Leben Liebe erfahren hat, der fasst ein Zutrauen zum ganzen Dasein. Dem fällt es dann auch leichter, an Gott zu glauben: dass da eine gute Wirklichkeit ist, die ihn trägt und hält. Es gibt aber auch Menschen, die das nicht erfahren haben, und die trotzdem an Gott glauben.

Ich und Du
Als Menschen sind wir ausgerichtet auf ein „Du“. Wir leben immer in Beziehung. Ganz wichtig für das Kind ist die Mutter. In diesem Du machen wir die ersten Erfahrungen mit der Welt und mit uns selbst. Dann ist es der Vater, die Geschwister – immer ist da ein Du, das uns auf unserem Weg begleitet. Und im Leben mit ihnen begreifen wir, wer wir selber sind.

Dass wir auch zu Gott „Du“ sagen, das scheint nur ein weiterer Schritt. Die ganze Wirklichkeit tritt uns da gegenüber, und mit dem Vertrauen, das wir gelernt haben, begegnen wir ihm und sagen „Du“. So haben wir schon beten gelernt, lange bevor die Eltern es uns beigebracht haben. Das liegt in uns Menschen drin, dieses ich und Du. Darum gibt es keine Kultur in der ganzen Menschheitsgeschichte, die nicht eine Religion und eine Beziehung zu Gott gefunden hätte.

Wachsen und Heilen
Im Gespräch mit diesem Du darf jetzt laut werden, was wir im Leben vermisst haben. Vor diesem Du darf aufblühen, was wir uns ersehnen im Leben. In der Begleitung dieses Du dürfen wir neue Schritte machen im Leben. Ja, wir haben nicht alles schon von Kindheit an, aber wir dürfen auch später noch lernen. Wir bringen nicht alles schon mit, was man zu einem guten Erwachsenenleben braucht oder zu einem guten Alter – aber in diesem Ich und Du mit unserem Gott, darf das Alte vergehen und Neuem Platz machen.

In diesem Du darf heilen, was verwundet ist. In dieser Geborgenheit darf wachsen, was lange verkümmert war. Und ein neues Zutrauen wächst zum Dasein, zu den Menschen und zu sich selbst. Und neue Schritte werden möglich im Leben.

Lieben
Denn das Du, das will immer ankommen bei den Menschen. Die Liebe, die will sich immer verwirklichen mit einem Menschen, auch wenn Gott uns zu Hilfe kommt, mit seiner Liebe. Der Glaube will uns nicht von der Welt abziehen, er will uns einen festen Boden unter die Füsse geben. Er will uns eine Brücke bauen zu den Menschen, er will sich verwirklichen in dieser Welt, damit man es sieht und erfährt und erleben kann: Es gibt einen Gott, und Liebe ist nicht nur eine Chimäre. Es ist das erste in der Welt.

 

Aus Notizen 2013
Foto von Nathan Cowley von Pexels