Schlüssel-Erlebnisse

Manchmal sitzt man da und denkt an sein Leben. Aus dem Nebenzimmer hört man Geräusche vom Mann oder von der Frau, die etwas arbeiten. Auf der Anrichte stehen die Fotos der Kinder und Enkel. Die Zeit ist schnell vergangen. Man begreift gar nicht, wo sie geblieben ist…

Die Erinnerung wird wichtig im Alter, manchmal fast wichtiger als das, was man jeden Tag neu erlebt. Die grossen und schönen Erfahrungen des Lebens: sie leben in der Erinnerung. Und vieles von dem, was dort ganz präzis verankert ist, findet man draussen in der Welt gar nicht mehr vor.
Die Eltern! Man kann nicht mehr hingehen und sie besuchen, sie sind gestorben. Das Haus der Kindheit! Man kann es suchen, aber es steht nicht mehr. Die Nachbarschaft hat sich verändert. Freunde, mit denen man ein halbes Leben geteilt hat – viele sind weggezogen oder schon gestorben.

Die Wirklichkeit ist mehr, als wir sehen, riechen und anfassen können. Liebe können wir auch nicht sehen, und doch will keiner ohne Liebe leben. Gerechtigkeit hat keinen Geruch, man kann sie nicht riechen. Aber wenn sie fehlt, dann beginnt es zu „stinken“ auf der Welt. Barmherzigkeit – wenn sie fehlt im Zusammenleben der Menschen, dann wird es unbarmherzig und nicht zum Aushalten. Nein, die Wirklichkeit ist mehr, als wir anfassen können.

Religion?
Ein älterer Mensch beurteilt Religion anders als ein junger Mensch. Er hat einen anderen Begriff von Wirklichkeit. Religion ist nicht einfach nur Illusion, weil man es nicht mit Händen fassen kann, es ist nicht einfach nur Vertröstung. Ein älterer Mensch misstraut den Revolutionen, die die Verhältnisse hier auf Erden ändern wollen und das «Reich Gottes» mit Gewalt herbeiführen. Das kommt nach seiner Erfahrung immer schief. Er glaubt nicht mehr, dass man durch Erziehung einen „neuen Menschen“ erschaffen kann, der das Paradies auf Erden baut. Er ist aber auch nicht nur ein Pessimist oder ein Welt-Flüchtling, der dem Diesseits den Rücken dreht und sich in religiöse Jenseits-Welten flüchtet.

Durch die Erfahrungen seines Lebens versteht er die Sprache der Religion. Sie ist dem Traum verwandt: Da tauchen Bilder auf, wie es sein soll, auch wenn man es im Wachzustand noch nicht mit Händen greifen kann. Da tauchen Bilder auf, wo Konflikte versöhnt und Leiden verheilt sind. Wo „das Lamm neben dem Löwen weidet“, wie es in der Bibel heisst. “Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.“ Das Leben insgesamt „kommt an“. Der Weg der Menschheit insgesamt mündet in ein Ziel. Und die Welt ist, wie sie soll.

Bilder des Ganzen
Es sind Bilder des Ganzen, wo der Mensch sich mit seinem Dasein aufgehoben erlebt. Das Bruchstück ergänzt sich zum Ganzen. Das, was isoliert vor sich hin lebt, versteht seinen Sinn. Es ist wie jener Teppich, der auf seine Vorderseite gedreht wird. Und das Bild wird sichtbar, das in diesen Teppich eingewoben ist. Auf der Rückseite, wo wir leben und weben, ist nur ein Gewirr von Fäden sichtbar. Keiner übersieht es, keiner weiss woher und wohin. Wird der Teppich umgedreht, so wird das Bild sichtbar, das unseren Augen verborgen war. Und wir sehen, was gemeint ist mit dieser ganzen Welt. Wir sehen und verstehen. Und wir staunen: über die Schönheit, die darin liegt.

Kinder und Enkel
Ein älterer Mensch hat darum auch ein anderes Verhältnis zum Tod. Mit dem Tod hört für ihn nicht alles auf, nur weil dann das Fühlen und Tasten aufhört. Die Wirklichkeit ist ihm grösser, als was wir sehen und tasten können. Er lebt selber schon mehr in seinen Kindern und Enkeln als in seinem eigenen Leben. Er hat den Schritt schon gemacht, vom „ich“ zum andern, von seiner kleinen Lebenswelt zu einem grösseren Begriff von Leben. Er fühlt sich nicht bestohlen, wenn er anderen etwas Gutes wünscht. Er fühlt sich reich darin. Er dankt Gott jeden Tag für seine Kinder und Angehörigen. Denn sie sind es, die sein Leben reich machen.

Dank für das Leben
Manchmal sitzt man da und denkt an sein Leben. Aus dem Nebenzimmer hört man Geräusche vom Mann oder von der Frau, die etwas arbeiten. Auf dem Buffet (auf der Anrichte) stehen die Fotos der Kinder und Enkel. Die Zeit ist schnell vergangen. Man begreift gar nicht, wo sie geblieben ist. Aber links und rechts ist vieles herangewachsen, und man fühlt sich reich. Man möchte Danke sagen für das Leben.

Man hat vielleicht nicht all das erreicht, was man sich vorgenommen hat. Das Leben ist anders geworden, hat andere Wege genommen. Aber es ist deswegen nicht weniger. So sitzt man da, denkt an sein Leben. Und man möchte Danke sagen.

Eine Familie hilft auf dem Weg. Die Menschen, die wie gern haben, sind wie Schlüssel, die uns einen Weg aufschliessen zu anderen Menschen. Man sieht Jugendliche im Zug. Früher hätte man sich vielleicht an ihrem Benehmen gestossen. Aber sie erinnern uns an die eigene Tochter, an den Sohn, der zuhause ist. Und plötzlich fühlen wir uns verbunden.

Er ist sich selbst nicht mehr genug
Die Erinnerung an die Familie hilft uns, uns „auszuweiten“, wir finden den Weg zu anderen Menschen. Die Liebe will nicht bei der Familie stehen bleiben. Nicht alle haben eine Familie. Aber alle spüren, dass die Liebe nicht bei der eigenen Person Halt machen kann. Sie will weiter gehen zum andern. Es ist wie bei einem Verliebten. Wenn jemand sich verliebt, ist er sich plötzlich nicht mehr genug. Er muss zum Nächsten. Ohne ihn fühlt er sich nicht ganz, mit ihm fühlt er sich reich. Es ist eine Erfahrung, wie wir uns selber finden im andern.

Christus lädt uns ein, diese Erfahrung auszuweiten: Dass wir das Glück, das er uns schenkt, wie einen Schlüssel verwenden. Er kann uns den Weg aufschliessen zu anderen Menschen.
Wer solche Erfahrungen gemacht hat, kann verstehen, was Christus mit dem Gleichnis meint: «Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben liebhat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.“

Wer liebt, der ist wie ein Weizenkorn, das in die Erde fällt. Er gibt das ewige Kreisen in sich selber auf. Er lebt im andern. In ihm erfährt er seinen Reichtum und sein Leben. In dieser Hingabe erlebt er Schönheit, auch wenn er schon alt und seine Haut runzlig ist. In seiner Freude an den andern erfährt er Liebe, auch wenn er nicht mehr jung ist und die Zeit der Liebe nach den Massstäben der Gesellschaft für ihn vorbei ist. Seine Seele ist jung. Sie findet zur Gemeinschaft im andern. So gibt er das Leben weiter, so bringt sein Leben Frucht, wie Christus sagt.

Ehre
„Wer mir dienen will, der folge mir nach“, sagt Christus. „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.“ – Das kommt dazu: die Ehre, der Respekt. Daran liegt es oft, dass wir uns um uns selber drehen, dass wir uns nicht aufmachen können für andere Menschen: wenn wir das Gefühl haben, dass wir nicht respektiert werden. Dass man uns den schuldigen Respekt verweigert.

Ohne Respekt kann niemand leben. Wenn jemand auf die Seite geschoben wird, ist es wie ein Hahn, den man zudreht und die Luft abschneidet. Christus kehrt die Reihenfolge um: Wir müssen nicht erst darauf achten, dass man unser Lebensrecht achtet. Und dann können wir uns entfalten. Auch hier hilft uns die Erfahrung, die wir mit den Kindern machen. Da verschenkt man sich einfach, man stellt keine Bedingungen. Und so kommt der Weg in Gang.

So kommt der Weg in Gang
So dürfen wir auf alle Menschen zugehen. Die Liebe zu den Kindern hilft uns dabei, den ersten Schritt zu tun. So können wir das Hinderliche wegschieben. Auch unsere Sorge um Achtung und Respekt, ob wir genügend beachtet werden, das können wir auf die Seite tun. „Wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.“ Wer auf seinem Weg geht, wer sich von der Liebe anstecken lässt, wer seine Freude und seinen Reichtum im anderen findet, der findet Achtung und Respekt – zuerst in den Augen Gottes, und dann der Menschen.

 

Zum Sonntag Laetare, aus Notizen 2010
Foto von Bess Hamiti von Pexels