Das Leben besichtigen

Vielleicht reisen Männer nach der Pensionierung auch deshalb so gern im Land herum, weil sie ihr Leben besichtigen. Es ist nicht einfach Tourismus, es ist das vergangene Leben, das gelebte und das ungelebte. So geht es auch mir, als ich den Stätten meines Lebens nachreise.

Jede Entscheidung hinterlässt auch ungenutzte Möglichkeiten. Und es ist reizvoll, sich diese auszumalen. So wie beim Kartenspiel – manchmal spiele ich aus und bedaure den Zug schon im Spielen. Ich hätte es auch anders machen können. Es wäre reizvoll, alle möglichen Varianten zu wissen, die das Spiel hätte nehmen können…

Meine Art, das Leben anzugehen, zeigte sich auch bei diesem Rundgang durch die Stadt, wo ich früher mal eine Stelle hatte.

Aussen herum
Ich entscheide, dass ich erst aussen herum gehe. Das ist meine Art. Ich hätte sonst das Gefühl, ich hätte es mir zu leicht gemacht, wenn ich gleich ins Zentrum gehe, wenn ich dort weitergehe, wo es schön ist und wo es gleich ins Ziel zu führen scheint. Ich würde es dann büssen, meine ich, denn das, was mir gefällt, das kenne ich schon, das kann ich. Aber dort aussen werde ich vielleicht mit Aufgaben konfrontiert, die mir nicht liegen, die ich nicht lösen kann. Und die muss ich doch vielleicht bestehen?

Lebenswege
So gehe ich mein Leben lang in Gassen, die ich nicht kenne, konfrontiere mich mit Aufgaben, die ich noch nicht lösen kann, lade mir Dinge auf, die mir schwer werden und die ich nicht einmal gerne tue. Und ich lasse liegen, was ich gerne habe, was mir leichtfällt, wo es mich hinzieht. So kann man auch einen Weg gehen, das ist auch eine Regel für ein Labyrinth: Wähle immer das, was dich abstösst. Aber ist das ein Weg zum glücklich werden? Entfaltet man so seine Talente, für sich oder zum Wohl von andern? Ist das überhaupt ein Weg zu irgendetwas? Oder ist es nur die Verbohrtheit einer kindlichen Psyche?

Vorschnelle Mitte
Ich bin älter geworden. Jetzt kann ich nicht mehr alles von aussen und von unten aufdröseln. Jetzt ist es dringlicher, ins Zentrum vorzustossen. Führt nicht jedes Labyrinth schon nach den ersten Durchgängen mitten hinein? Man sieht die Mitte schon, man ahnt es schon, und es gibt Kraft und Freude zum Weitergehen. Aber gleich darauf führt der Weg wieder fort, er geht aussen herum. Es wäre eine Enttäuschung, wenn ich mich gefreut hätte, schon jetzt ins Zentrum vorstossen zu können.

Innen und aussen
Meine Psyche enthält das Labyrinth in sich. Darum ist nichts verloren, egal, ob ich zuerst ins Zentrum vorstosse oder aussen herum gehe. Ich muss wohl alle Wege in diesem Labyrinth abschreiten. Denn das Leben ist labyrinthisch strukturiert. Es gleicht dem Birnbaum, der seine Form im Blatt zeigt aber auch im Ganzen. Diese Baumstruktur hat es im Äussern, aber sie ist auch in unser Inneres eingebildet. Darum steckt es auch in meiner Psyche.

Also ärgere Dich nicht um ein vertanes Leben. Es ist immer ganz und eins. Auch wenn ich nur die Bruchstücke sehe, auch wenn es mir in der Mitte zerbricht. Aber die Mitte ist da, und ich kann mich hineinstellen. Und dort erfahre ich das Ganze. Dort ist Gegenwart und Schauen. Dort zeigt Gott dem Moses das gelobte Land.

 

Aus Notizen 2014

Bei meiner Pensionierung blickte ich auf meine Berufstätigkeit als Pfarrer zurück. Ein Rückblick auf die Seelsorge und ihre Entwicklung in 20 Jahren findet sich unter Streiflicht (auf der Menüliste des Blogs).

Ich grüsse SO und möchte ihr diesen Beitrag zueignen in Dankbarkeit und Respekt.

Bild Hokusai