Die inneren Kolonien

Im Zug habe ich Raabe gelesen, „Zum Wilden Mann“. Geschrieben in der Gründerzeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, als durch die französischen Reparationen viel Geld nach Deutschland floss. Das regte die Spekulation an. Es schuf schnelle Vermögen, eine ganze Blase von Neureichen. Bis diese Blase in der Krise von 1873 auch schon wieder platzte und viele, die das Alte, Bewährte aufgegeben und sich verschuldet hatten, als Abenteurer und Falliten zurück liess.

Es ist eine Parallele zu Kellers «Martin Salander». Dieser ist eher enttäuscht, moralisierend. Raabe fasst es mythologisch. Er zitiert die literarische Figur des Teufelspaktes, um zu erklären, was da mit den Menschen vor sich ging. Warum sie plötzlich alles Bewährte und über Generationen Hochgehaltene im Stich liessen und um das goldene Kalb tanzten.

Als Verführer taucht wohl einmal der Teufel auf, aber nur andeutungsweise, wie es sich für aufgeklärte Leute gehört. Wesentlicher ist ihm die Psychologie. Er begreift die Menschen aus ihrer Persönlichkeits-Spaltung, aus ihrer dunklen Seite. Und dafür steht der „Wilde Mann“. Raabe verlegt das Dunkle aber nicht nur in den Schatten einer Psychodynamik, er zeigt auch ganz realistisch, wo die Menschen diese Art des Verhaltens schon gelernt haben: in den Kolonien. Dort gibt es einen ganzen Bereich der Wirklichkeit, wo dieselben Menschen, die in Deutschland so bürgerlich und wohlanständig leben, ganz anderen Grundsätzen folgen. Der Verführer ist darum jemand, der aus Brasilien zurückkehrt und die Kapitalien sammelt und hohe Renditen verspricht aus dem Brasilien-Geschäft.

Noch einen Bereich gibt es, wo das „Nicht-Ich“ sich tummelte, wo Erfahrungen gemacht wurden, die das „bürgerliche Ich“ nicht zum Bewusstsein zuliess. Der Verführer war früher Scharfrichter. Er floh in die Kolonien, nachdem er einmal sein Amt ausüben musste, das über Generationen auf ihn gekommen, das aber über lange Zeit nicht ausgeübt worden war.

Kolonien im Innern
Ob Scharfrichter oder nicht. Es gibt auch in den bürgerlichen Gesellschaften Tätigkeiten, die von Parias ausgeübt werden, von Menschen mit prekärer Stellung. Sie tragen in sich den Konflikt der Gesellschaft aus. Diese muss sich nicht zu ihnen bekennen. Sie brauchen sie zwar. Anders geht es nicht, dass morgens um sechs schon die Zeitungen im Briefkasten sind und die Brötchen beim Bäcker. Aber sie schauen nicht hin. Das sind keine anerkannten und in Gewerkschaften organisierten Berufe. Die leben von Hungerlöhnen und in Stellungen, die ihnen kaum Rechte geben. Und wenn sie krank werden oder die Stelle verlieren, wer schaut dann für ihre Kinder?

Solche Menschen haben wir auch in Augsburg gesehen. (Das war das Ziel der Zugsreise.) Aber dazu muss man nicht ins Ausland reisen. Das kann man auch in der Schweiz sehen. Dazu genügt es, zu den Schatten-Zeiten aufzustehen und an Schatten-Orte zu gehen. Dort findet man die „Schatten-Menschen“. Falls man sich als „Licht-Mensch“ dorthin getraut, als ein Wesen, das Schwein gehabt hat. Jetzt kann er einem Arbeitslosen eine Strassenzeitung abkaufen und einem Bettler etwas geben. Jetzt muss er nicht selber auf der Strasse musizieren und in Durchgängen schlafen. Wer weiss, wie lang das gut geht?

Vieles findet sich zur Frage, was eine „Biographie“ ausmacht, zu Schatten-Biographien, zur Wirtschaftsweise im neokolonialen Aufbruch. (Deutschland versucht in dieser Zeit, hinter England und Frankreich und anderen Grossmächten her zu rennen und errichtet Kolonien im Ausland. Und unerkannt auch im Inland und in der eigenen Psyche. Denn alles Äussere hat einen Ableger und Stellvertreter auch im Innern, wie umgekehrt.)

Goldrausch
Nur ein Zitat zu dem „Goldrausch“, den diese Renditemöglichkeiten auslösten. Häuser, Äcker, Geschäfte waren keine Häuser, Äcker und Geschäfte mehr. Man konnte sie zu „Kapital“ machen und Rendite scheffeln (bzw. an die gerissenen Hyänen verlieren, die jetzt auftauchen, wie die Raider in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, die mit Spekulationsgeld alte Firmen aufkauften, ausweideten und wieder abstiessen. Eine neu formierte Finanzwirtschaft stiess auf die alte, behäbige Realwirtschaft, die nach anderen Grundsätzen wirtschaftet, die das Land und die Gebäude noch als Produktionsfaktoren benötigt, nicht als Rendite-Objekte auf dem Grundstücksmarkt.)

„Ich wollte, du wärest geblieben, wo du dich so wohl fühltest. Mein gesunder nächtlicher Schlaf ist hin, seit du im Lande bist, und wie mir, so geht es der Mehrzahl meiner Bekannten. Du hast, sozusagen, der ganzen Gegend die Phantasie verdorben. Ich kenne auf drei Meilen in der Runde niemanden, der noch ruhig auf seinem Stuhle sitzen kann. Da ist nicht einer, der nicht hin und her rückt und überlegt und berechnet, was alles er bis Dato im Leben versäumt habe.“

 

Aus Notizen 2013.
Die erwähnten Bücher: Wilhelm Raabe, Zum Wilden Mann, 1873, und Gottfried Keller, Martin Salander, 1886.
Bild: Auf dem Wiener Kongress setzte Großbritannien ein grundsätzliches Verbot des afrikanischen Sklavenhandels durch. Westafrikanische Sklavenhändler erfahren von den Briten, dass der Sklavenhandel nun illegal sei. (Bild gemeinfrei)