Arbeit an sich selber

Die Bibel ist voller Mahnungen, dass man zu sich sehen soll. „Hüte dich und bewahre deine Seele wohl!“ heisst es im 5. Buch Mose (Dtn 4,9). Aber dafür braucht es vielleicht gar keine Mahnung.

Dass wir richtig leben, dass wir den Weg nicht verfehlen, dass wir ans Ziel kommen – das ist doch das allererste Lebensbedürfnis.

Von Kindheit an
Das beginnt bei vielen Menschen schon in der Kindheit: Acht-, Neun-Jährige – ohne dass man es ihnen beigebracht hätte – machen nachts vor dem Einschlafen Gewissens-Erforschung. „War es richtig, was ich getan habe?“ Das Gewissen, das bei den Kindern in diesem Alter wach wird, betätigt sich und macht sich geltend. Das muss man gar nicht anmahnen.

Es geht weiter in der Pubertät. Jetzt möchten sich die Jugendlichen selber bestimmen. Sie möchten das Leben in die eigene Hand nehmen. Ein bewusster Umgang mit dem eigenen Leben beginnt. Man erleidet das Leben nicht einfach, man gestaltet es.

Wenn man anfängt, sich selber Ziele zu setzen, macht man auch die ersten Erfahrungen von Widerstand. Man stösst auf Hindernisse aussen in der Welt, aber auch innen in sich selber. Nicht immer kann man sich so verhalten, wie man will. Und es beginnt eine lebenslange Arbeit an sich selbst.

Zuerst ist man vom Berufsleben gefordert. Es gilt, die Ausbildung abzuschliessen, eine gute Stelle zu finden. Und wenn es gelungen ist, wenn man gezeigt hat, dass man «Karriere machen» kann, dann schlägt das Interesse wieder um: innere Fragen tauchen wieder auf. Die Orientierung am Erfolg tritt zurück hinter andere Fragen.

In dieser Zeit hat man auch erste Erfahrungen gemacht mit Liebesbeziehungen. Man schliesst Freundschaften, heiratet. Vielleicht geht es wieder auseinander. Man spürt, wie das Leben “tun“ kann. Es ist voller Sehnsucht und Glücksversprechen. Erfüllung gehört dazu, aber auch Vermissen – und Zeiten der Einsamkeit.

Und die Frage taucht wieder auf, was ein gutes, ein richtiges Leben ist, und wie man dazu kommt.

Was tue ich hier eigentlich?
Vielleicht geschieht es an einer Bushaltestelle, beim Warten auf den Bus zur Arbeit, dass man sich plötzlich wie von aussen sieht. Und man fragt sich: „Was tue ich hier eigentlich?“ Man wird sich fremd, geht sich selbst verloren, man muss sich wieder finden.

Auf dem Lebensweg gibt es nicht nur die Aufgaben, die man lösen kann, indem man sich anstrengt. Es gibt nicht nur die Bewährung im Beruf – es gibt auch eine Bewährung in einer Beziehung – und schon da hört das Machen auf. Da wird man konfrontiert mit dem Menschen, der man ist, mit der ganzen Vergangenheit, die hier mitwirkt. Hier weiter zu gehen, das ist eher ein Heilen und Wachsen als ein Sich-Anstrengen und Leisten.

Auf dem Lebensweg gibt es auch immer wieder einen ganz grossen Übergang. Da wird das Album des Lebens eine Seite weitergeblättert. Und vorher und nachher ist man nicht derselbe Mensch. – Dass Menschen sich verändern in der Kindheit, das ist uns vertraut. Wer mit Jugendlichen zusammenlebt, der spürt sehr handfest, wie das vor sich geht, wenn ein Mensch sich verwandelt in der Pubertät. Das Alte gilt nicht mehr, das Neue wird angestrebt, aber man hat es noch nicht. Man steckt zwischen drin und ist verletzlich und verletzt andere Menschen mit seiner Heftigkeit.

Wenn das Leben sich verändert, ist man selbst ganz drin im Geschehen. Man kann es nicht mehr von aussen betrachten, man muss sich diesem Geschehen anvertrauen. Und gewöhnlich klappt es ja auch. Wir werden geboren, ohne dass wir selber dabei Regie führen. Wir kriegen als Kinder Zähne und lernen gehen, ohne dass wir selber den Zeitpunkt bestimmen. Auch die Klippe der Pubertät schaffen wir – noch jede Generation ist da durchgekommen. Und so wird es auch sein im Alter und wenn wir sterben.

Die Schritte
Es gibt Schritte im Leben, die wir nicht einfach machen können, und doch müssen wir sie gehen. Da suchen wir nach einem Weg: Man kann sich das nicht einfach vornehmen, als ob es nur von uns abhinge, und doch spüren wir, dass wir auch eine Verantwortung dabei haben. –

Schon vieles ist zusammengekommen, was dazu gehört, wenn wir «für die Seele sorgen»: Da ist das Kind, das sich vor seinem Gewissen verantwortet, der Jugendliche, der einen bewussten Umgang mit seinem Leben beginnt. Da ist die lebenslange Arbeit an sich selber. Da sind die Erfahrungen von Scheitern, und die Erfahrung von Wachsen und Heilen. Da sind die Zeiten, wo unser Leben sich wandelt, da ist Geburt und Tod, wo wir uns ganz anvertrauen müssen und die Zügel in andere Hände geben.

Das Ich entsteht am Du
Seelsorge ist bezogen auf Gott. Ohne ihn wäre es ein leeres Sorgen, ein verzweifeltes Geschäft. Auf ihn bezieht sich das Kind, wenn es sein Gewissen erforscht, auf ihn der Erwachsene, wenn er versucht auf dem Weg weiterzugehen, der zu Wachstum und Heilung führt. Gott ist der Anfang und das Ziel dieses Weges.

Er ist auch die Mitte, wo der Mensch sich immer wieder einfinden kann und zur Ruhe kommen. Darum gehört das Gebet zu dieser Sorge für sich selbst. Dass man zum andern kommt, zu Gott, dass man aus dem Alltag heraustritt und in einen geschützten Raum wie in einen Garten. Und dort ist man in der Mitte der Zeit, an der Quelle, wo man teilhaben kann, wo man still werden kann. Wo man neue Kraft findet.

Seelsorge ist bezogen auf Gott und auf den andern Menschen. Der andere steht ganz am Anfang unseres Weges. Wir Menschen stehen immer in Beziehung. Von Kindheit an ist da ein Mensch, der zu uns gehört. Und in Auseinandersetzung mit diesem Menschen wachsen wir. Wir lernen begreifen wer wir sind. Und so ist es auch im Erwachsenenleben, in der Liebe, in der Ehe. Immer ist es ein „Du“, an dem wir erst lernen, „Ich“ zu sagen. In Auseinandersetzung mit diesem Du entfalten wir uns. Nur so wird unsere Sehnsucht wahr.

So kann man sagen: Das Geheimnis der Sorge für seine Seele, das ist die Liebe. Darum fasst die Bibel diesen Weg zusammen in den Satz: Du sollst Gott lieben mit ganzer Kraft und den Nächsten wie sich selbst. Erst so wird man zum Menschen.

Wie sollen wir also recht für unsere Seele sorgen? Vieles wäre zu sagen. Gibt es etwas, was ich wissen muss, auch wenn alles andere ins Wanken geriete? –
Es geschieht ja immer wieder im Leben, dass etwas nicht gelingt. Immer wieder zerbricht etwas und wir stehen vor den Scherben. Immer wieder gibt es Verlust oder Abschied. Und es tut in der Seele weh. Dann brauchen wir keine Rezepte, aber Arme, die sich um uns legen. Dann ist die grösste Weisheit die, die sich in Berührung ausspricht und Nähe.

Und so macht es auch Gott. Er breitet seine Arme aus. Im Kreuz wendet er sich denen zu, die ausgeschlossen sind oder verzweifelt. Und er umarmt den Menschen, dem etwas zerbrochen ist oder der nicht mehr weiss, wer er ist und was er soll. Hier kann der Mensch seine Trauer hintragen, hier seine Angst beruhigen. Hier kann er wieder Ruhe finden und neuen Mut.

Für seine Seele sorgen – das ist keine olympische Disziplin, wo es Könner gibt und Stümper. Es ist ein gemeinsamer Weg mit dem, der uns begleitet und der uns auch ans Ziel bringt – ohne unser Verdienst – einfach aus Liebe.
Darum können wir sagen mit dem Psalm: „Ich habe den Herrn allezeit vor Augen. Steht er mir zur Rechten, so wanke ich nicht. Darum freut sich mein Herz, und frohlockt meine Seele. Auch mein Leib wird sicher wohnen. Du tust mir kund den Weg zum Leben. Vor dir ist Freude und Fülle ewiglich.“

 

Aus Notizen 2008
Foto von Marius Venter von Pexels