Am Pranger

Im Zuge des Fortschritts haben wir ein Instrument wiederentdeckt, das wir ausgestorben glaubten. Wenn man früher vom Mittelalter sprach, dachte man an finstere Zeiten, man erinnerte sich an die Schulreise auf die nahe gelegene Burg, wo Folterinstrumente gezeigt wurden, mit denen man die armen Seelen strecken und aufs Rad flechten konnte. Dazu gehörte auch der Pranger.

Er gehört in eine Zeit, in der es noch kein modernes Rechts- und Strafwesen gibt. Leute werden dem Zorn und dem Spott der Menge ausgesetzt, da gibt es kein Gerichtsverfahren, man kann sich nicht verteidigen.

Heute haben wir zwar ein ausgefeiltes Rechtswesen, trotzdem wird der Pranger aus den Folterkammern des Mittelalters wieder hervorgeholt.

Pranger und Ehrenstrafen
Über das Internet hat der Pranger ungeheure Verbreitung erlangt. In den USA wird er auch von Behörden eingesetzt. „So sind auf der „National Sex Offenders Public Website“, einem Angebot des US-Justizministeriums, die Daten mehrerer Hunderttausend US-Bürger zugänglich, die wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurden. Einsehbar sind die Namen der Täter, Fotos, ihre aktuelle Adresse, Details zur Verurteilung und eine Liste der physischen Merkmale. Über eine Suchmaschine kann man so seinen Wohnort systematisch auf mögliche Delinquenten hin überprüfen.

„Neben den behördlichen Seiten gibt es inzwischen auch eine ganze Reihe „privater“ Internet-Pranger – so zum Beispiel „rottenneighbor.com“, eine „Nachbarschafts-Seite», auf der man sich über Alkoholiker und Kriminelle aller Art in seiner Umgebung informieren kann.

„Private Internet-Pranger beschränken sich indessen nicht auf die Präsentation von Sexual- oder Beziehungstätern. Angeprangert wird inzwischen fast alles und jeder. Viele dieser Pranger firmieren vornehm unter der Bezeichnung „Bewertungsportal„: Bewertet werden Lehrer und Professoren ebenso wie Ärzte und Promoter, Produkthersteller, Bauhandwerker und Friseure.“

„Bisher lassen die Gerichte – auch und gerade in Deutschland – die Betreiber derartiger Portale weitgehend gewähren. Sofern es sich bei den Webseiten-Einträgen um Meinungsäusserungen handle, würden sie vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt. Nicht geschützt seien lediglich Schmähkritik, Beleidigungen und üble Nachrede; hier greife das Allgemeine Persönlichkeitsrecht.

„Das Hauptproblem liegt jedoch darin, dass der Staat, indem er Prangerstrafen verhängt oder zumindest duldet, faktisch sein Monopol der Rechtsprechung aufgibt. Man könnte überspitzt sagen: Er lässt, mangels eigener Urteilsfähigkeit, den Mob entscheiden – und nimmt damit zugleich die Unkalkulierbarkeit des Strafmasses (bis hin zur Lynchjustiz) billigend in Kauf. Ein Rechtssystem, das Prangerstrafen gutheisst, macht sich in gewisser Hinsicht zum Agent provocateur der Massen.“

Spott und Hohn
Die Verwendung des Prangers beginnt bei den Kriminellen, sie dehnt sich aber immer mehr aus. „Scham-Sanktionen“, so Martha Nussbaum, in Chicago lehrende Philosophin, „beginnen stets als Strafen gegen Kriminelle. Doch dann breiten sie sich sehr schnell aus. Bei den Römern etwa waren es erst Verbrecher, dann auf einmal Christen. Das Symbol des Fisches war damals eine Straf-Tätowierung.“

Das Kreuz Christi war nicht nur ein Folter- und Hinrichtungs-Instrument, es war auch ein Pranger, ein Schandpfahl. Damit sollten mögliche Nachfolgetäter abgeschreckt werden. So gehörten auch Christen zu den kollektiv Gezeichneten.

Sie haben die Deutung später umgedreht: Christus, der unschuldig Hingerichtete, hat die Schande für sie getragen. Auch die Kennzeichnung wird in der Offenbarung umgekehrt. Es bezeichnet nicht mehr die Verdammten und Ausgespuckten, sondern die Auserwählten. (Off. 7,1ff)

Spott und Hohn sind keine äusserliche Zutat zum Tod Christi, sie gehören in der Bibel zu seiner Passion. Der Schandpfahl ist eine seiner Leidensstationen.

Scham ist eines der verletzendsten Gefühle. Wer blossgestellt wird, „verliert sein Gesicht“, er möchte „am liebsten im Boden versinken“. Da ist kein Boden mehr, auf dem er stehen könnte. In seiner Passion erleidet Christus nicht nur das Los der Gerechten, die blossgestellt werden. In ihm solidarisiert sich Gott auch mit den Geschundenen, die in Acht und Bann hinausgestossen wurden. Auch sie können sich in seiner Passion wiedererkennen.

So hat sich der Spott eingeschrieben auch in die kirchliche Liturgie. Das ist nicht nur eine historische Erinnerung, es ist eine Hilfe für Menschen, die heute unter Spott und Hohn zu leiden haben. Ich zitiere aus einer Osterliturgie:

Auferstehung aus der Schande
„Mein Herz ist fröhlich in Gott, er hat mich aufgerichtet.“

Sie haben ihn ausgelacht. Als Jesus gefangen war, spuckten sie ihn an und sagten: „Bist du ein Prophet, so weissage mir, wer es war.“ Sie schlugen ihn und sagten: „Wenn Gott Freude an dir hat, soll der dir doch helfen!“

„Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verhüllte ich nicht, wenn sie mich schmähten. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.“

Sie haben ihn verspottet und an den Schandpfahl gebunden. Sie haben mit Fingern auf ihn gezeigt und ihn bloss gestellt.

«Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.»

Wir haben unser Dunkles auf ihn geworfen. Wir haben an ihm verfolgt, was wir an uns selber nicht ertragen.

«Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.»

Wir wollten los werden, was uns plagt.

 «Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen eigenen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.»

 Er hilft, dass auch wir tragen können, dass wir annehmen können, dass wir uns versöhnen können mit dem Dunkeln in uns selbst. Weil er vergibt. –
Und Er bleibt nicht im Dunkeln.

 «Um der Mühsal seiner Seele willen wird er sich satt sehen. Darum soll er erben unter den Grossen, und mit den Starken soll er Beute teilen, dafür dass er sein Leben hingegeben hat und zu den Übeltätern gerechnet wurde, da er doch die Sünde der Vielen trug und für die Übeltäter gebeten hat.» (Jes 53)

 

Aus Notizen 2010.
Der liturgische Text stammt aus einer Osternacht-Feier 2006.
Die Zitate über den Pranger in Deutschland und USA stammen aus Wikipedia und sowi.st-ursula-attendorn. de/kf/kf1dok13.htm)
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