Nächtliche Gedanken zu Kain und Abel

Kain erschlägt Abel. Bei einem Totschlag scheint es eindeutig, es geht so schnell: «Da ist ein Täter, da ein Opfer». Betrachtet man die Vorgeschichte und die Nachgeschichte, nimmt man auch Verletzungen dazu, die nicht in einem Schlag erledigt sind, zeigen sich Eigenheiten einer traumatischen Verletzung. Sie prägt die Wahrnehmung und das Verhalten, als ob das Erleben auf das Ursprungs-Geschehen fixiert wäre. Oft ist es schwierig, sich aus dem prägenden Erlebnis zu lösen, die Geschehnisse werden zwanghaft wiederholt. Das hilft den Betroffenen nicht und verewigt die Konflikte.

Diese Einsicht in Trauma und Wiederholungs-Zwang wirft ein neues Licht auf die Beurteilung von Schuld und Unschuld. Das Opfer wiederholt das Ereignis in endlosen inneren Dialogen. Es führt das Widerfahrene wie ein Theaterstück immer wieder auf. Es erlebt sich selber als gefangen in diesem Stück, findet aber keinen Ausgang.

Opfer und Täter
Eine moralische Beurteilung, die Schuld und Unschuld klar unterscheiden und Opfer und Täter identifizieren kann, führt nicht daraus hinaus. Nimmt man die Eigenheit traumatischer Verletzung in Betracht, wird alles auf eine neue Ebene gehoben. Der Wiederholungs-Zwang führt ein Theater auf, er wirkt wie ein Regisseur: Er braucht einen Schuldigen und einen Unschuldigen, um die alte Verletzungs-Geschichte ewig fortzuschreiben. Wie die Anteile (an Schuld und Unschuld, an Täter und Opfer) wirklich waren, bleibt unberücksichtigt. Dabei hofft der Verletzte auf Heilung, der Gespaltene auf Integration: Kain und Abel sollen sich endlich in die Arme fallen!

Die beiden sind schon in einer Person verankert, diese führt Regie in der Verletzungs-Geschichte, die die ursprüngliche Geschichte überlagert hat und endlos perpetuiert, so dass sie ihrerseits zum Ursprung immer neuer Verletzungen wird, beim ursprünglichen «Täter» wie beim «Opfer».

Der Finger im Spiel
Wenn Kain und Abel in eine Person zusammenfallen – eine Identifikation, die die Aufforderung Christi weiterführt, ihn im Ärmsten zu erkennen – dann bekommt die Geschichte von Kain und Abel eine neue Pointe. Kain ist Abel, der Täter ist auch das Opfer. Auch Abel hat Teil an beiden Seiten des Dramas: Als Abel ist er Opfer seiner selbst. Als Kain ist er Täter im Unglücks-Geschehen, das er immer wieder aufführt. Auch er ist schuldig – bei all dem Ansehen, das er als Abel hat für Unschuld und Opfer-Sein.

Wenn es nicht so bitter wäre, könnte man ein Kasperle-Spiel darin erkennen. Da tritt ein lustiger Kasper auf und ein böses Krokodil. Aber es ist immer der Finger des Menschen, der das Spiel aufführt. Er steckt in beiden Figuren – bis er es müde wird. Solche Geschichten kann man im eigenen Leben finden. Unselige Wiederholungen gibt es auch in der Abfolge von Generationen, wo Kinder das Unglück der Eltern zu repetieren scheinen. Es sind Geschichten, die auch die Versöhnung erschweren in sozialen und politischen Konflikten, weil eine Erzählung von Verletzung und Unrecht immer weitergesponnen wird.

 

Foto von Monica Silvestre, Pexels

Beachten Sie den vorangehenden Beitrag «Kain und Abel 2022» zum Film L’Innocent von Louis Garrel.