Die Legende von der Seele, die in den Schmutz gefallen ist

Im Lauf der Jahre ist mir deutlich geworden, dass meine Erlebnisse im Glauben eine Vorgeschichte haben, die in vorbewusste und vorsprachliche Zeit zurückreicht. Ich bin immer wieder auf solche Überreste einer «Archäologie» meines Glaubenslebens gestossen. Sie laden zum Ausgraben ein wie die Schätze versunkener Kulturen.

Ich gab ihnen den Titel «Jadetempel» – das Bild war ein versunkener Tempel, dessen Überreste aus dem Sand hervorragen. Sand und Schmutz gehören dazu, und das Hervorragen, das Ahnen, das einen Suchweg auslöst, der ein ganzes Leben anhält.

Die Legende
„Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloss, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.“ (1. Mose 2,7)
Nach einer Legende legte er die Seelen, ehe er sie mit Lehm umkleidete, auf einen Tisch. Da geriet eine über den Rand hinaus und fiel hinunter in den Dreck. Er sah sie und hob sie wieder auf.
Es haftete ihr aber etwas an von dieser Herkunft: ein Gefühl von Dreck, von Stolz und Leidenschaft, ein Suchen und eine dunkle Erinnerung an einen, der aufhebt.

Der Jadetempel
Da bin ich als kleines Kind schon in den „Jadetempel“ geraten. Jadetempel – dieses Wort kam mir später in den Sinn. Es sind Erfahrungen von grosser Schönheit und Kostbarkeit, aber sie liegen im Dreck, wie ein vergessener und von der Zeit vergrabener Tempel. Sie glänzen wie Goldflitter im Geröll eines Bachbetts. Im tiefsten Schlamm kann man sie finden. Und aus Verlust wird Reichtum, aus Elend Schönheit. Es ist der Schatz, der im Dreck liegt.

Der Schatzsucher
Diese Funde haben mich zu einem Schatzsucher gemacht. Sie haben mir einen Weg eröffnet neben dem offiziellen Weg, den mir Schule und Gesellschaft wiesen. Ich wurde ein Autodidakt, nicht nur im Nachholen der Schulbildung, die ich im ersten Anlauf verpasst hatte. Es war, als ob ich Lunte gerochen hätte. Und ich folgte der Spur. Da war ein innerer Weg neben dem äusseren.

Klar wollte ich mich angleichen, klar wollte ich anerkannt sein in der Welt der andern. Und ich suchte das Glück mit allen Fibern. Aber da gab es auch eine Leidenschaft, die sich trotzig stellte und die sich der anderen Welt verweigerte. Manchmal war mir der Schmerz lieber als die Heilung, die ich mir doch auch ersehnte, die Gewalt der Gefühle lieber als der Frieden, den ich suchte.

Der Stolz
Manchmal liebte ich diese Verlorenheit mehr als das Ankommen am Ziel und ich warf mich ihr in die Arme. Das war die Landschaft, die ich kannte. Ich suchte den Weg nicht mehr zurück, obschon ich es mir auf die Fahne geschrieben hatte als einen Weg, der vorwärts führt: das Gleichmass, die Mitte, die Ausgeglichenheit, das Streben nach Heilen und Wachsen. Aber der Schmerz hat auch seine Schönheit. Und er hat seinen Stolz. Dann wollte ich gerade nicht sein wie andere. Und wenn ich sie sonst beneidete, dann trug ich es in diesen Momenten wie eine Auszeichnung. Dieser Schmerz war das, was mich aussonderte, das war „ich“, das war mein Leben. Und ich wollte nicht um Entschuldigung oder um Erlaubnis dafür bitten.

Die Leidenschaft
Darin steckte ein Stück Elitarismus, der von der Umwelt nicht geduldet wurde. Und oft haben sie mich gedemütigt dafür, haben mir die Schnauze hineingedrückt, wie meine Mutter bei den Katzen, wenn sie ins Wohnzimmer machten. So hätten sie es früher auf dem Hof gemacht, meinte sie auf meine entsetzten Ausrufe.

Auf der anderen Seite hat mir dieser Charakter-Zug Dinge zugänglich gemacht, die im Alltagsverkehr verborgen bleiben. Er hat Vorhänge aufgezogen vor einer neuen Welt, die mir sonst unbekannt geblieben wäre. Bis in meine allerletzte Pfarrerzeit wollte ich Texte schreiben, Feste feiern, die aus dieser Leidenschaft lebten, die aber im wohltemperierten Geschäftsverkehr einer Kirchgemeinde keinen Platz haben. Erst dann aber, meinte ich, hätte ich meine Berufung als Pfarrer voll eingelöst: wenn ich diese Leidenschaft mit andern teilen könnte.

 

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Aus Notizen 2014
Foto von sergio souza von Pexelsktober 2014