Glaube in der Nacht

Wenn es heiss ist, fahren wir mit dem Rad dem Fluss entlang zur Badestelle. Heute habe ich dort nach 40 Jahren ein altes Buch wieder gelesen. Eine Stelle habe ich angestrichen: „Sind sie gläubig?“ – „Nachts“.

 

Die Auskunft ist nicht so flapsig, wie sie tönt. Sie klingt wie ein Bonmot, ein Witz, wie man ihn in einer Konversation hinwirft. Der Autor erzählt viel von solchen Dialogen in der Offiziers-Kaserne, wo sie nichts ernst zu nehmen scheinen und den örtlichen Priester frotzeln. Verlust und Einsamkeit haben ihn aber beschäftigt, auch wenn er sich später gern als Stierkämpfer und Hochseefischer einen Heldenanstrich gegeben hat.

Nacht
Verlust und Einsamkeit verdichten sich für ihn zum Begriff der „Nacht“. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs (er arbeitet als freiwilliger amerikanischer Sanitätsoffizier in der italienischen Armee) treten dagegen fast in den Hintergrund. Aber sie sind wohl mitgemeint. Sie beschreiben eine Welt, in der man nicht allein sein sollte. So wird der Bericht von Krieg und Front von einer Liebesgeschichte überlagert. Er wird von einer Mine verletzt und verliebt sich im Lazarett in eine Krankenschwester. „Wir fühlen uns nie einsam und hatten niemals Angst, wenn wir zusammen waren“, schreibt er.

Die Nacht kann dem Tag nicht erklärt werden
„Ich weiss, dass Tag und Nacht nicht dasselbe sind; dass alles anders ist, dass die Dinge der Nacht am Tag nicht erklärt werden können, weil sie dann nicht existieren. Und die Nacht kann für einsame Menschen, wenn ihre Einsamkeit einmal begonnen hat, eine schreckliche Zeit sein. Aber mit Catherine machte es kaum einen Unterschied, nur dass die Nacht vielleicht noch schöner war. Wenn Menschen so viel Mut mit auf die Welt bringen, muss die Welt sie töten, um sie zu zerbrechen, und darum tötet sie sie natürlich. Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den zerbrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie.“

Ein religiöses Gefühl
Er gibt ein Gespräch mit Graf Greffi wieder, einem bald 100jährigen italienischen Adligen. Der fragt ihn: „Sind sie gläubig?“
„Nachts“.
„Vielleicht habe ich meine religiösen Gefühle überlebt.“
„Meine eigenen kommen nur nachts.“
„Ausserdem lieben Sie auch. Vergessen sie nicht, das ist ein religiöses Gefühl.“
„Glauben sie?“
„Natürlich.“

Gebet in der Nacht
Die Todesorgie des Ersten Weltkriegs endet in diesem Roman mit dem Bericht von einer Geburt. Das Kind wird aber tot geboren und die Frau stirbt bei der Geburt. So liegt eine tiefe Elegie über dem, was ein positiver Ausblick hätte werden können. So wie vorher eine seltsame Leichtigkeit über all den Berichten vom Krieg gelegen hatte. Es war, als ob es einen nichts anginge. Aber das hier geht einen an.

So erzählt er, wie Catherine auf der Entbindungsstation liegt. „Ich ging auf den Gang hinaus. Es war ein kahler Gang mit zwei Fenstern, und den ganzen Korridor entlang waren verschlossene Türen. Es roch nach Klinik. Ich sass auf einem Stuhl und sah auf die Erde und betete für Catherine.“

Als er vom Tod seines Sohnes erfährt: „Ich war religionslos, aber ich wusste, man hätte ihn taufen müssen. Armes kleines Kerlchen. Ich wünschte, ich wäre so erwürgt worden.“ (Er war von der Nabelschnur erstickt worden, die sich um seinen Hals gelegt hatte). „Nein, das wünschte ich mir nicht. Und doch, dann hätte man nicht all das Sterben durchzumachen. Jetzt würde Catherine sterben. Das tat man eben. Man starb. Man wusste nicht, worum es sich handelte. Man hatte nicht Zeit, es zu erfahren.“

Was man eben tat
Dann erzählt er jene Anekdote, wie er Ameisen auf einem brennenden Holbalken sieht. Kurz hat er ein „Messias-Gefühl“, er könnte sie retten. „Aber ich tat nichts dergleichen.“ Die Ameisen rennen herum und fallen ins Feuer. So ist er einbezogen in das, „was man eben tat“. Im Weltkrieg starben Millionen, seine Frau starb, sein Kind starb. Die Ameisen starben. Wenn es Nacht wurde und die Einsamkeit kam, betete man. Aber der Tag wusste nichts davon. Da war man „religionslos“.

Er stellt den Roman unter ein Motto von Christopher Marlow. „Bernhardine: Thou hast committed… – Barabas: Fornication: but that was in another country, and besides, the wench ist dead.“

In einem anderen Land
„In another country“ ist der Titel seines Romans. Es ist der schmerzvolle und doch poetisch verzauberte Blick zurück auf eine andere Zeit. Auch er ist schuldig geworden in jener Zeit und in jenem Land. Und gerade die Tatsache, dass es ein anderes Land war, hat es erleichtert, schuldig zu werden.

Die Kontrolle am eigenen Ort fand dort nicht statt. „Die Dirne ist tot“ ist ein bitteres Zitat. Sie war nicht seine angetraute Frau, darauf legte man in jener Zeit noch Wert. Es war eine Krankenschwester, die er nach einer Verwundung im Lazarett kennengelernt hatte. Und die Schlacht-Berichte von der Front werden unterbrochen von der Erzählung der Liebesnächte.

Frivol wirkt das, der Roman wird seinerzeit wohl Protest ausgelöst haben. Er scheint so unberührt von all dem Elend. Er schwebt darüber, als ob es ihn nichts anginge. Er schreibt von Ausschweifung und „unehelicher Liebe“, während andere ihre Haut zu Markte tragen.

Gibt es ein „anderes Land“?
Es war Liebe. Er hätte sie heiraten wollen, eine Familie haben. Es war wirkliche Liebe und es war der Anfang eines „religiösen Gefühls“. Aber sie ist gestorben. Die Vorlage, aus der er das Motto nimmt, nennt die Frau eine „Dirne“. Ja es war eine Dirne, so wird die Aussenwelt wohl urteilen. Für ihn ist eine ganze Welt untergegangen. Der Erste Weltkrieg hat auch ihn erreicht. Es gibt keinen Separatfrieden. Es gibt kein „anderes Land“, in das man fliehen könnte, wenn die ganze Welt in Flammen steht.

„Ich sass draussen auf dem Gang. Alles in mir war weg. Ich dachte nicht. Ich konnte nicht denken. Ich wusste, dass sie sterben würde und ich betete, dass sie nicht sterben würde. Lass sie nicht sterben, oh Gott, bitte lass sie nicht sterben, ich werde alles für dich tun, aber lass sie nicht sterben. Bitte, bitte, bitte lieber Gott, lass sie nicht sterben.“ …  Sie stirbt trotzdem.

Ich werde zu dir kommen
Eine seltsame Nachblüte des religiösen Lebens findet sich in der Aussage von Catherine: „Ich werde zu dir kommen und nachts bei dir sein.“ In ihrem religiösen Leben gibt es Züge, die die Grenze des Empirischen übersteigen. Für ihn muss das esoterisch wirken. Aber er lässt es stehen. Was weiss der Tag von der Nacht?

„Ich werde zu dir kommen und nachts bei dir sein.“ Darin vermischt sich die Erinnerung an die Liebesnächte mit der religiösen Vorstellung einer ewig dauernden Liebe und Verbindung.

Das «Loch» des Traumas und die «Mitte» des Glaubens
Wieder scheint es eine skandalöse Vermischung von Erotik und Religion. Nur dass die Bibel und der Glaube sich darüber nicht so entsetzen. Die Bibel vermengt es selbst. Und der Gläubige, wenn er an sein Trauma von Verlassenheit rührt – ihm wird die Gegenwart religiös aufgeladen. Dort, wo für das Trauma das „Loch“ ist, in das alle Lebensgeister hineinstürzen, wo alles hinabgezogen zu werden scheint, wo nur noch Ende ist – dort erhebt sich eine „Mitte“, wo alles Leid ruhig werden kann. Da ist ein Schoss von Barmherzigkeit, der den Verlorenen auffängt. Da sind Arme, die sich um ihn schlingen und einen Ort angeben, wo er sein kann in der Welt. Da werden Tränen abgewischt und Gott spricht: „Siehe, ich mache alles neu!“

Dazu hat er Zugang in der Nacht, in der er betet. Am Tag weiss er nichts davon.

 

Aus Notizen 2016
Das Buch «In another country», deutsch «In einem andern Land» von Ernest Hemingway. Hamburg 1971.
Foto von Saliha von Pexels