Lebenswege – Weg des Lebens

Gibt es hinter all den verschiedenen Lebenswegen so etwas wie einen Weg des Lebens, eine Spur durch das Gestrüpp? Ein Pfad, der ans Ziel führt? Das müsste etwas anderes sein als die Trampelpfade der Psyche: jenes Verhalten, das wir gelernt haben und das wir immer wieder abspulen, so dass wir immer wieder in derselben Falle landen?

Seltsame Gewissheit
Woher kommt eigentlich die Sicherheit im Märchen, dass es am Ende gut heraus kommt? Woher weiss das Märchen, dass das Gute siegt? Dass die Menschen, von denen da erzählt wird, nicht untergehen, sondern ans Ziel kommen?

Es ist ja nicht so, dass das Märchen dem Dunkeln im Leben ausweichen würde. Der dunkle Wald gehört zum Märchen wie der böse Wolf. Und die Menschen, von denen da erzählt wird, gehen nicht immer nur auf der Sonnenseite. Im Gegenteil. Oft hat man Angst um diese Kinder. Sie geraten in einen Zauberwald, in den Bannkreis einer Hexe und werden in Stein verwandelt.

Und doch bleibt es bei diesem Dunkel nicht stehen. Das Märchen weiss mit schlafwandlerischer Sicherheit, dass der Weg nicht ins Leere führt. Am Ende steht oft eine Hochzeit. Am Ende siegt das Gute, die Gerechtigkeit. Die Wahrheit kommt an den Tag. Und selbst wer unter einem Bann stand und sein Leben schon für verloren hielt, wird erlöst. Das Märchen schildert das Leben des Menschen wie einen Weg, der gebahnt ist, auf dem es sinnvolle Schritte gibt – und nichts ist sinnlos, was ihm darauf geschieht. Auch das Unglück ist nicht umsonst. Und sogar, wenn einer am Anfang im Nachteil scheint, weil er der Kleinste ist oder der Dümmste – am Ende ist er es, die die Aufgabe löst.

Eine Sprache für Ahnungen
Märchen haben eine Sprache, wie man über Dinge reden kann, die wir mehr ahnen als wissen. Wir fragen uns: Gibt es ein „Ankommen“ auf dem Lebensweg? Hat das Leben einen Sinn? Wenn im Märchen ein Mensch in einen „Bann“ gerät, dann können wir uns einfühlen. Wir kennen das Gefühl, blockiert zu sein und aus einer Situation nicht weg zu kommen. Gibt es auch im Leben so etwas wie Erlösung, wo ein Bann sich löst, eine Lähmung von einem Menschen abfällt, eine Blockierung verschwindet, so dass das Leben sich freier entfalten kann?

Kann man von einem Leben als Ganzes sagen, dass es gelungen ist? Und wie soll man es anstellen, dahin zu gelangen, da schon der Anfang, die Geburt, nicht in unserer Macht steht? Gibt es also hinter all den Lebenswegen, die so unterschiedlich sind bei den Menschen, so etwas wie einen Weg des Lebens, der allen gemeinsam ist? Gibt es einen Weg zum Ziel?

Wege am Himmel
Wenn man von Weg redet oder von einer Bahn, dann kann man auch an einen Himmelskörper denken. Der kreist auf einer festen Bahn. Er weicht nicht davon ab. Jeden Tag geht die Sonne auf und unter. Wenn sie davon abweicht, ist das Leben gefährdet. Viele Märchen haben ihren Ursprung in Himmels-Beobachtungen. Auch die Sicherheit, dass es richtig herauskommt am Ende, stammt aus dieser Erfahrung mit den Himmelskörpern.

Die Menschen, die den Himmel beobachteten, haben schon in Urzeiten empfunden, dass es so etwas wie eine „Richtigkeit“ gibt in der Natur, einen richtigen Weg, auf dem das Leben gelingt. Und wenn man davon abweicht, geht es verloren.
Darum haben die alten Griechen einen Namen gehabt, mit dem sie die ganze Wirklichkeit bezeichneten: „Kosmos“. Das heisst wörtlich: Schmuck, Ordnung.
Es ist eine grosse Schönheit und Ordnung in der Natur und in allem was da ist. Diese Ordnung ist allem eingestiftet. So entfaltet sich das Leben, es gilt im Himmel und auf der Erde.

Und auf der Erde?
Die Vorstellung, dass das Gesetz des Himmels auch auf der Erde gelten solle, zeigt sich bis in die Struktur des „Unser Vaters“, wo wir beten: „Dein Wille geschehe – wie im Himmel, so auf Erden.“ Es gibt einen Weg, auf dem alles sich entfaltet. Er gilt im Himmel und lenkt die Sonne, und er gilt auf der Erde und soll uns Menschen leiten.
„Sogar die Zugvögel kennen ihren Weg“, heisst es in einem Text der Bibel. Sogar die Schwalbe weiss, woher sie kommt und wohin sie geht. Aber der Mensch hat es vergessen.

Gibt es wirklich so etwas für den Menschen: einen Weg, auf dem man gehen kann? So wie bei den Zugvögeln: Sie wissen nicht bewusst, wohin sie fliegen, und finden doch jedes Jahr ihren Weg? – Unser Gefühl sagt ja: Wir sind nicht endlos unterwegs, es gibt so was wie ein „Ankommen“. Wir sind nicht von uns aus auf dem Weg, da war etwas vor uns da. Es hat uns alles gegeben, was wir brauchen. Es ist, als ob es uns begleitet.

Wege im Leben
Gibt es also einen „Weg“? – Die Frage klingt „altmodisch“; die moderne Welt redet nicht in diesem Stil. Allenfalls findet man Anklänge noch in der Entwicklungs-Psychologie. Diese entwirft einen Stufenweg, sie skizziert einen Weg, dem entlang sich ein Mensch entwickelt. So kennen wir den Weg, wie sich das Denken und Wahrnehmen beim Kind entwickeln (das ist die kognitive Entwicklung nach Piaget). Freud und die Psychoanalyse haben den Weg der sexuellen Entwicklung aufgeklärt. Erik Homburger Erikson hat das Schema von Freud erweitert. Er zeigt, dass die Entwicklung in der Pubertät nicht aufhört, sondern im Erwachsenenalter weitergeht bis ins hohe Alter. Er zeigt, dass der Mensch immer wieder neue Aufgaben bewältigen muss.

Stanislaw Grof hat den Weg nach hinten erweitert: Schon die Geschehnisse bei der Geburt beeinflussen den Menschen. Sie prägen sich dem Körpergedächtnis ein und beeinflussen die Art, wie er später in bestimmten Situationen reagiert. Nach Grof hat auch der Körper des Menschen eine Art Gedächtnis, die weit zurückreicht in die Geschichte der Menschwerdung und weiter in die Geschichte des ganzen Kosmos. Diesen Gedanken kennen wir auch von C. G. Jung. Im Mutterleib wiederholt das ungeborene Kind die ganze Entwicklung der Menschwerdung. So sind in seiner Psyche auch Spuren dieser Entwicklung eingegraben, die sog. Archetypen. Es sind Symbole der Menschwerdung.

Hier finden wir – in einer psychologischen Sprache – den „Weg“ wieder, von dem wir sprachen. Der Weg des Menschen – so wird hier behauptet – ist in einer symbolischen Form im Innern jedes Menschen niedergelegt. Er ist wie eine Art „Autopilot“, der seine Entwicklung steuert. Es liegt nicht im Bewusstsein, sodass man sich daran einfach erinnern könnte. Man kann die Schritte dieses Wegs nicht einfach in die Agenda schreiben und dann Tag für Tag abarbeiten.

Traumwege am Übergang
Der Weg ist in einer eigenen Sprache notiert, ähnlich wie die Märchensprache. Es ist eine bildhafte Sprache, wie wir sie aus Träumen kennen. Wenn wir träumen, dann fühlen und erleben wir. Und wir handeln. Aber es ist nicht das bewusste Ich, das handelt. Es ist etwas in uns, das agiert. Aber es ist nicht weniger erfolgreich. Auch Geschehnisse, die wir bewusst gar nicht steuern könnten, sind von dort her angeleitet.

Das ist wichtig bei Übergängen im Leben, wenn unser Leben sich verändert. Da verändern sich oft so viele Dinge gleichzeitig, dass es für unser Gefühl ist, als ob das „Album des Lebens“ eine Seite umgeblättert hätte. Denn nachher, wenn wir darauf zurückschauen, sind ganz andere Bilder zu sehen. Andere Aufgaben standen vor uns. In den Träumen spürten wir, dass etwas Neues sich konstellierte. Mit dem Bewusstsein können wir solche Dinge nicht steuern, aber wir können es begleiten.

Da kommt jetzt die Religion ins Spiel. Immer wieder haben Menschen Rituale gefunden, die solche Übergänge verständlich machen. Die Rituale nehmen auf, was in inneren Symbolen schon im Menschen liegt, sie machen es bewusst. So können „äussere“ Sakramente tief ins Innere wirken. Sie können blockierte oder verschüttet Wege öffnen. Sie können Vertrauen schenken, wenn die Angst den Übertritt erschwert. Sie können Schritte ermutigen. Sie helfen dem Menschen auf seinem Weg. Die Religion spricht von Gott. Er hat diesen Weg eröffnet, er ist auf ihm vorausgegangen. So kann der Gläubige den Weg bewusst gehen, als Nachfolge auf diesem Weg.

„Seelenreise“
C.G. Jung hat seine Symbole nicht nur aus der Traumforschung gewonnen, sondern auch aus seiner Beschäftigung mit alten Religionen. In der altägyptischen Feier vom Weg der Sonne fand er das Konzept der „Seelenreise“ (ein in der Antike verbreitetes Bild vom Weg des Menschen). Die Seele geht auf einem Weg vom Ursprung bis ins Ziel. In antiken Religionen fand er das in einer kultivierten Form vor: In den Feiern dieser Religionen wird der Weg Gottes nachgezeichnet. Die Teilnehmer des Gottesdienstes schauen und hören vom Weg. Sie sehen, woher ihr Leben stammt, wohin es unterwegs ist und was ihnen auf dem Weg begegnet. In der Mitte begegnet Gott auch ihnen.

In der Initiationsfeier, durch die die Menschen in die feiernde Gemeinde aufgenommen werden, begegnen sie Gott. Er sagt ihnen seine Hilfe und Begleitung zu. Sie sollen nicht verloren gehen, sie gehörten dazu. Gott ruft sie auf seinen Weg, sie sollen ihm nachfolgen. Er gibt ihnen Kraft dazu: sie erhalten Gemeinschaft an Gott durch ein gemeinsames Mahl. Sie lernten sich anschliessen an die Quelle, aus der alles Leben kommt. Sie müssen nicht mehr kämpfen, wo kämpfen nichts bringt, sie dürfen sich an einen Tisch setzen und teilhaben an etwas Grossem. Danach kehren sie in den Alltag zurück, aber jetzt neu, mit neuer Kraft und Ausrichtung.

„Nachfolgen“
Leben ist jetzt Nachfolge auf einem göttlichen Weg. Wer darauf geht, der ist angeschlossen an den Ursprung, er geht nicht verloren. Er hat Zugang zur Quelle, er findet immer neue Kraft. Er ist auf einem Weg, auf dem er eigene Schritte machen muss, und doch findet er zu einem Ziel, zu dem er aus eigener Kraft nie gelangen könnte. So findet er zu einem Ziel, wo es ein Ankommen gibt und wo die tiefsten Intuitionen wahr werden. Und er kann sich mit seinem Leben versöhnen, er kann den Ort annehmen, wo er steht, und sich auf den neuen Weg machen. So findet er Frieden in sich und kann tun, was er soll.

Auch die Anhänger von Jesus Christus, als sie ihre Erfahrungen mit ihm weitergeben wollten, haben das in einer solchen Feier getan. In der Taufe geschieht die Initiation, die Aufnahme auf den Weg. Im Abendmahl erfährt der Glaubende Gemeinschaft mit Gott. Der Gottesdienst feiert die Gegenwart Gottes unter den Menschen.

Das Christentum hat das Wissen um einen solchen Weg entfaltet. Die Bibel fasst die Erfahrungen von vielen Generationen zusammen. Sie erzählt, was sie erlebt haben auf dem Weg und wie sie leben. Die Ethik ist zusammengefasst in der „goldenen Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ Aber das Zentrum ist nicht die Ethik, am Anfang steht der Glaube, das Vertrauen, aus dem wir leben. Das ist die Beziehung zu dem, der von Gott her kommt, der uns sucht.

Es ist wie bei der Begegnung von Christus mit dem Blinden vor Jericho. Er bückt sich zu uns nieder und fragt: „Was willst du, dass ich Dir tue?“ – «Dir geschehe, wie du geglaubt hast.“ Und er führt uns auf dem Weg. Er kommt uns entgegen und begleitet uns bis ins Ziel.

 

Aus Notizen 2007
Zur astronomischen Märchendeutung vgl. Ralf Koneckis, Mythen und Märchen. Was uns die Sterne darüber verraten. Kosmos-Verlag, Stuttgart 1994.