Sehnsucht nach Erlösung

Es ist schön, am Tisch zu sitzen, ein Bier neben sich, bald kommt das Essen. Vor mir die Zeitung: Es ist ein Vorgefühl von Ferien. Auch das Wetter spielt mit, der «Hexenkessel» über den Atlantik, der immer neue Gewitterfronten über das Land schaufelte, gibt heute Ruhe. Selbst Corona hat ein Einsehen. Viele Einschränkungen sind aufgehoben. Man kann wieder wandern und einkehren. Ein Gefühl «wie früher».

Ich nehme einen Schluck Bier und sehe die Schlagzeilen in der Zeitung durch. «Sehnsucht nach Erlösung» steht da in grossen Lettern. Heute ist das Fussball-Finale. «Seit 55 Jahren wartet der EM-Finalist England auf einen Titel.» Es gibt viele Bilder. Man kann sich einstimmen auf das Finale.

Inzwischen bleibt das Wort «Erlösung» bei mir hängen. Es ist nicht alltäglich, selbst in der Kirche nicht. Es signalisiert eine gesteigerte Gefühlswelt, lässt denken an eine lange Zeit vergeblicher Versuche. Fast unmöglich scheint einem das Ersehnte. Es ist, als ob man unter einem Zauber stünde. Und es braucht eine «Erlösung», um davon loszukommen. Sollte das ein Wort sein für unsere Zeit?

Das Wort kennt man aus den Märchen. Da ist eine Hexe, die einen Bann legt um ein Haus, und alle, die in seine Nähe kommen, werden gelähmt und müssen «erlöst» werden. Kinder kennen dazu viele Fangspiele, etwa «Versteinern» oder «Käfer-Fangen», wo die von der «Hexe» berührten Kinder auf den Rücken liegen müssen und mit allen Vieren zappeln, bis sie von anderen Mitspielenden berührt und «erlöst» werden.

So gelähmt zu werden kennen wir Erwachsenen vielleicht auch. So verwandelt, dass wir nur noch mit den Beinen zappeln. Ich nehme einen Schluck Bier und geniesse es, mal mit Abstand auf mein Leben zu schauen. Jetzt geht es in die Ferien. Aber die Arbeitswelt erinnert mich manchmal an diesen Bann, der lähmt. Es wäre schön, von diesen Ferien zurückzukehren und gewisse Dinge mal anders machen zu können, mehr von mir her. Dass ich drin vorkomme und mich nicht immer nach andern verbiegen muss. Könnte das Leben nicht so werden, wie es gedacht ist? Ich möchte ja das Beste von mir geben, warum gelingt es nicht?

Da ist mir was aufgegeben für die Ferien. Erst mal ausschlafen. Mich erholen. Etwas anderes machen. Mit der Familie unterwegs sein. Dann vielleicht, von den Rändern des Bewusstseins her, mich mit dem beschäftigen, was mich erwartet, wenn ich zurückkehre. Wie kann ich es anders angehen? Wie gelingt es mir? Bleibe ich für immer in diesen Gängen gefangen, wo ich mein Leben abspule oder gibt es etwas Neues?

Am nächsten Tag höre ich: Italien ist Europameister. Für England hat es nicht gereicht. Das schöne Wetter ist vorbei, für den Abend ist wieder eine Unwetter-Warnung ausgegeben. Und die Nachrichten machen keine Hoffnung, dass Corona so schnell vorbei wäre. Das «Chäferli-Fangis» geht wohl noch einige Zeit weiter.

 

Bild nach NZZ 10.7.21, vor dem Finale England gegen Italien
(Das Kinderspiel «Käfer-Fangen» heisst in der Schweiz «Chäferli-Fangis».)