Die unerlöste Kirche

Wo steht die Kirche? Kirche als religiöse Instanz scheint heute kaum noch vorhanden, in einer anderen Form begegnet sie an allen Enden. Die Hoffnungen sind aus der Religion ausgewandert, die Versprechungen erfolgen nicht mehr im Namen eines Gottes, die Sehnsucht bindet sich an Gehalte dieser Welt, die aber doch mit religiöser Kraft aufgeladen werden. Das kann als Fortschritts-Versprechen erfolgen, wenn das Handeln in dieser Welt optimistisch eingeschätzt wird.

Aber auch eine pessimistische Weltsicht, die an den vielen Krisen resigniert, kann sich in Heilsversprechen flüchten: Wenn nur endlich die eine Bedingung erfüllt ist – die nationale Einigung abgeschlossen, die letzten Reste des Volkes heimgeführt, die alte Herrschaft wieder aufgerichtet – dann ist der Zeitpunkt der Erfüllung da. Dieses Gemenge von Politik und ideologischen Heilsgütern, die aus der Säkularisierung der Kirche stammt, ist heute brisanter als die alte Kirche. Es ist eine unerlöste Kirche, die Unheil produziert, weil sie absolute Forderungen legitimiert. Absolute Gehalte müssen der Religion zurückgegeben werden, wo sie in symbolischer Form gelebt werden.

Aber worum ging es der Kirche? Wozu Glaube, Religion?

Der Anfang setzt das Gelingen schon voraus
Dass das Leben gelingt, das ist eine Voraussetzung, die gegeben sein muss, damit Leben überhaupt beginnen kann. Mit jedem Anfang, mit jedem Samen, der keimt, ist auch schon gesetzt, dass der Anfang sich entwickeln kann. Die Gestalt, die im Anfang verborgen ist, entfaltet sich.

Auch im Zusammenleben der Menschen gibt es vieles, was wir voraussetzen. Ohne Gerechtigkeit geht es nicht. Wenn diese Erwartung regelmässig zerstört würde, gäbe es einen „Krieg aller gegen alle“ aber kein friedliches Zusammenleben. Ohne Treu und Glauben in den zwischenmenschlichen Beziehungen funktioniert es nicht. Wenn diese Intuition regelmässig enttäuscht würde, dann sähe jeder nur noch für sich selber. Eine funktionierende Gesellschaft lässt sich so nicht aufbauen.

So gibt vieles, was wie eine Utopie aussieht, die am Ende der Zeit vielleicht eingelöst wird – dazu gehört auch der Friede. Aber in Wirklichkeit setzen wir das immer schon voraus. Ohne das gäbe es kein Leben und Zusammenleben. So sind die Vollendungs-Bedingungen des Lebens zugleich auch die Anfangs-Bedingungen des Lebens und seine Entfaltungs-Bedingungen. Es gibt Ganzheits-Begriffe, die denk und lebensnotwendig sind. Sie leben in unseren Intuitionen, in unseren Sehnsüchten und Bedürfnissen, die wir als Menschen notwendig haben müssen. Aber ihre Wirklichkeit geht über das hinaus. Es sind nicht nur Sehnsüchte und psychologische Daten, es sind Bedingungen der Möglichkeit des Lebens und Zusammenlebens.

Die Welt im Blick des Glaubens
Darum geht es dem Glauben, wenn er die Welt ansieht. Da frage ich nicht nur: „Was sehe ich?“ Sondern es ist immer die Frage nach dem Heil des Menschen, der Welt und der Wirklichkeit. Und der Glaube (wo er lebt) ist ein Vorweg-Nehmen des Heils und ein Leben, als ob dieses schon gegeben wäre. (Diese Vorwegnahme geschieht unbewusst immer schon. Wer es sich bewusst macht und darauf vertrauen lernt, der erschliesst sich eine Kraft-Quelle für sein Leben und Zusammenleben.) Darum findet sich überall, wo Menschen sind, auch Glaube und Religion.

 

Was Kirche meint
Wenn die Kirche sich ansieht, dann tut sie das in anderen Begriffen als die Soziologie, die die Kirche analysiert. Dann geht es nicht zuerst um die Interessen von einzelnen oder um Organisations-Formen von Menschen. Die Kirche spricht in den Kategorien ihres Glaubens: Das sind „Gott“, „der Mensch vor Gott“, „Heil“ und „Unheil“, und „der Weg“ zum Heil in dieser Welt. „Kirche“ ist dann nicht nur ein Gebilde, in dem sich die Menschen nach Zweckmässigkeit oder Rendite oder Machtfragen organisiert haben, sondern es ist das Bild der Gemeinschaft unter der Zusage des Glaubens (dass das Leben gelingt, dass der Weg der Menschheit nicht ins Leere geht, dass der Sinn des Kosmos sich erfüllt).

Der Sinn dieses Bildes ist nicht eine theoretische Beschreibung, es dient dem praktischen Interesse der Menschen: dass das Lebe gelingt. Darum spricht der Glaube in Bildern, die uns helfen sollen, uns selber zu verstehen – nach unseren höchsten und tiefsten Intuitionen, die wir als Menschen haben. Diese Bilder sollen uns anleiten auf unserm Weg. Sie sollen uns orientieren, den Sinn des Ganzen vor Augen stellen. Sie sollen uns trösten, ermutigen, versöhnen, damit Verletzungen heilen und Blockierungen sich lösen. Mit einem Wort: Es sind spirituelle Bilder.

Krise der Kirche
Die Kirche in ihren alten Formen scheint heute fast untergegangen. Und es sind Ängste, was wohl die Zukunft bringt. Um uns zu versichern, dass die Kirche eine Zukunft hat, müssen wir wissen, was mit „Kirche“ eigentlich gemeint ist. Aber nicht nur unser Verständnis der Kirche spielt hier eine Rolle, sondern auch unser Nicht-Verstehen oder unsere Missverständnisse. Das betrifft nicht nur die Kirche als Organisation, sondern auch das, was mit der Kirche ursprünglich gemeint ist: die absoluten Hoffnungen, die wir Menschen haben (dass das Leben gelingt, dass der Weg der Menschheit nicht ins Leere geht, dass der Kosmos in sich einen Sinn trägt, der sich auch an uns erfüllt.) Wenn man diese Hoffnungen nicht mehr mit der Kirche verbinden kann, weil die Kirche in den Augen der Zeitgenossen klein und hässlich geworden ist, dann beginnen die Gehalte zu wuchern.

Hoffnungen wandern aus
Viele, die in der Kirche arbeiten, halten diese heute für unbedeutend. Im Konzert der prägenden Kräfte unserer Zeit habe sie keine Stimme mehr. Aber die Kirche hat eine universelle, absolute Bedeutung, nur ist diese aus der Organisation Kirche ausgewandert, sie hat sich andere Kleider gesucht und ist unter anderem Namen aufgetreten. Aber ich behaupte, es hat das 20. Jahrhundert geprägt wie nichts sonst!

Wir müssen nur fragen, wofür der Begriff Kirche steht, und uns an die absoluten Gehalte erinnern, die damit verbunden sind. Diese sind denk- und lebensnotwendig, man kann sie gar nicht abschaffen. Und wenn wir sie nicht mehr mit der Kirche und ihren Traditionen verbinden, denn erscheinen sie in anderer Gestalt.

Religion wird aufgehoben
Die Aufklärung war eine von vielen Bewegungen, die die Religion aufheben wollte – „aufheben“ im doppelten Sinn von „abschaffen“ und „bewahren“. Man kann sie abschaffen, weil der Wahrheitsgehalt der Religion jetzt im Wissen aufbewahrt ist, so meint die Aufklärung. Was die Religion nur dumpf und gefühlsweise ahnte, dass habe sie ins Licht der Vernunft gehoben.

Ein Beispiel ist die Heilsgeschichte. Im Glauben ist es das Vertrauen, dass Gott auch hinter der Menschheitsgeschichte stehe. Dazu gehört die Erwartung vom Reich Gottes. Die Aufklärung hat das rekonstruiert als Fortschrittsglauben. Napoleon, am Ausgang der Aufklärung, benutzte den Fortschrittsglauben, um seine Herrschaft über Europa zu legitimieren. Er bringe das Licht der Aufklärung und befreie die Völker aus der Unfreiheit. Es war ein Vorgeschmack für das Unheil, das eine säkularisierte Heilsgeschichte als Ideologie anrichten kann. Es hat die Bevölkerung in Europa dezimiert.

Das Absolute und das Totalitäre
Im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts lebten die von der Religion losgelösten absoluten Heilshoffnungen in ideologischer Form weiter. Der Kommunismus hatte eine explizit heilsgeschichtliche Ideologie. Der Nationalsozialismus war zwar antichristlich, hat die Heilsversprechen aber übernommen. Überall dort, wo man verspricht, dass absolute Gehalte in der Geschichte positiv wirklich werden können, lädt man die Geschichte mit absoluten Bedeutungen auf. Es hat ein ungeheures Mobilisierungs-Potential, stösst dann aber notwendig an die Grenze, weil absolute Begriffe Grenzbegriffe sind. Sie können in der Geschichte nie voll eingelöst werden.

Darum haben die Ideologien im 20. Jahrhundert Massen bewegt, aber sie mussten im Desaster enden. Das Versprechen ist nicht einlösbar und man kann die Menschen nicht ewig auf spätere Generationen verströsten. Irgendwann kollabiert das System, sei es an inneren oder an äusseren Grenzen.

Die unerlöste Kirche
Betrachtet man diese Bewegungen von aussen, wirken sie wie eine unerlöste Kirche. Sie lösen die Spannung zwischen dem Reich Gottes und dem Reich dieser Welt positivistisch auf, das heisst sie identifizieren die absoluten Hoffnungen mit bestimmten historischen Tatbeständen. Das können auch Territorien sein, die zu «Heiligen Ländern» erklärt werden. Der Umschlag von absoluten Hoffnungen, die sich damit verbinden, zu totalitären Folgen, wenn man das mit Politik herstellen will, zeigt sich in der Gewalt, die dann als legitim erscheint.

Man muss die Spannung wieder herstellen, die Politik von diesen absoluten Erwartungen befreien und der Kirche im Gegenzug wieder die absolute Bedeutung zurückgeben. (Nicht dass sie wieder Herrschaft ausüben soll. Sie verwaltet sie in symbolischer Form, im Wissen, dass sie nie eins zu eins in die empirische Welt eingehen.) Das wäre eine Erlösung der Politik und eine Wiederentdeckung der Kirche.

Missverständnisse
Wenn wir betrachten, was in der Tradition mit Kirche gemeint war, dann zeigt sich also ein doppeltes Missverständnis:

  • Die absoluten Hoffnungen und Gehalte der Botschaft sind ausgewandert und haben historische Grössen wie den Staat, das „Volk“ oder ein System bis zu totalitären Gebilden aufgeblasen.
  • Und die Kirche als Institution ist als leere Hülle zurück geblieben – ein kleiner und hässlicher Verein ohne Bedeutung, weil nicht mehr sichtbar ist, wie die absoluten Hoffnungen, die wir Menschen denk- und lebensnotwendig haben müssen, mit dieser Kirche verbunden sein sollen.

Wenn es um die Zukunft der Kirche geht, brauchen wir also nicht nur Anstrengungen um die richtige Organisationsform und die best-mögliche Ressourcen-Verteilung, sondern auch breite und tiefe Denkbemühungen um das richtige Verständnis von dem, was Kirche ist und wofür sie steht.

Fazit
Als Fazit ergibt sich für mich: In Europa wurde die Kirche über Jahrhunderte zurückgebunden und im Anspruch reduziert. Im gleichen Schritt wurden absolute Heilsversprechen, die nur in symbolischer Form ohne Schaden gelebt werden können, auf historisch-politische Gebilde übertragen. Die alte Machtkirche, die von den Aufklärern bekämpft wurde, weil sie im Verein von «Thron und Altar» die Menschen knechtete – «écrasez l’infâme», schrieb Voltaire in jedem seiner Briefe – ist ohne Rest verschwunden. Die Macht ist auf andere Träger übergegangen.

So entsteht die Aufgabe, die neu aufschiessenden Heilsversprechen in Politik und Gesellschaft zu «säkularisieren» und von ihrem absoluten Überhang zu befreien. Umgekehrt müssen Gehalte wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Heil und Reich Gottes der Kirche zurückgegeben werden. Sie hat Formen von Feier, Glaube, Ermutigung entwickelt, die erlauben, an absoluten Werten teilzuhaben ohne sie in politische Verantwortung nehmen zu müssen. So wird die unerlöste Kirche, die noch in der Politik steckt, erlöst, und die bis auf die Grundmauern eingerissene Kirche des Glaubens kann sich wieder aufbauen.

 

Bild Jakobsleiter
Aus einem Referat