Religiöse Rekonstruktion in der Geschichts-Wissenschaft

Die Geschichtswissenschaft wird vom Staat manchmal in Dienst genommen, v.a. in Krisen, wenn Verbrechen aus der Vergangenheit ans Licht kommen, wenn kollektive Traumata berührt werden, die das Potential haben, Politik und Gesellschaft nachhaltig zu verstören. Dann setzt der Staat gern Historiker-Kommissionen ein, die das untersuchen und Leidensbestände in der Gesellschaft «aufarbeiten» sollen.

Das können Praktiken sein wie die Medikamenten-Versuche an Psychiatrie-Patienten oder das «Versorgen» der Verdingkinder in der Schweiz. Aber es können auch grosse historische Traumata sein, wie die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die Übergriffe im Kalten Krieg, die Reprivatisierungen «1989», das Apartheid-Regime in Südafrika oder der Genozids in Rwanda.

Grosse Erwartungen
Die Kommissionen werden oft «Wahrheits-Kommission» genannt. Es knüpfen sich grosse Erwartungen an ihre Arbeit: dass sie zur Versöhnung beitragen, dass sie Lasten der Vergangenheit ablegen helfen, dass sie ein Stück Gerechtigkeit bringen sollen, auch auf Feldern, die dem politischen Zugriff entzogen, wo die Opfer schon lange gestorben sind.

Da berührt sich die bürgerliche Gerechtigkeit, die der Rechtsstaat mit seinen Institutionen herstellen kann, mit Vorstellungen von religiöser Gerechtigkeit und von Schicksals-Gerechtigkeit. Auch das Unrecht an den Toten erfordert eine Antwort, und sei es nur in seinem Aussprechen, im Würdigen, in der Selbstverpflichtung kommenden Generationen gegenüber.

Das mythologische Vorbild
In einem Beitrag für die NZZ über solche Geschichtsschreibung zitiert der Autor Marc Tribelhorn (in «Kriminalisierte Vergangenheit», NZZ 31.10.19, S. 12) eingangs den Historiker Marc Bloch, der in seiner «Apologie der Geschichtswissenschaft» von 1942 davon abrät, «sich wie ein richtender Erzengel zu gebärden.»

Darin ist das mythologische Vorbild genannt: das Jüngste Gericht, wenn alle Völker und Menschen vor dem erhöhten Christus erscheinen und wenn der Erzengel Michael nach Off. 12 den Chaos-Drachen bekämpft. In der Ikonographie wird er auch beim Abwägen der Seelen gezeigt, wenn diese im jüngsten Gericht vor Gott erscheinen.

Religiöse Motive
Hier geht es um letzte Gerechtigkeit, über alle Zeiten hinweg und über alle Unterschiede von Ständen und Macht und Einfluss hinweg. Auch die Pforten des Totenreichs werden geöffnet. Die Vergangenheit ist für Gott nicht unabänderlich wie für Menschen. (Und auch diese haben schwache Kräfte, die Vergangenheit und Zukunft beeinflussen können, wie die Vergebung, die aus dem Gefängnis von Schuld und Passivität befreit, die einen neuen Anfang erlaubt und neue Hoffnung schenkt.)

Das Motiv des Jüngsten Gerichts ist verbunden mit dem Motiv der Auferstehung, der Macht über den Tod – nicht nur in dem einen Sinn, dass eine Macht den Tod anderer verfügen kann (das können auch Menschen), sondern in dem vollen Sinn, dass da eine Macht ist, die auch neues Leben schenken kann, weil sie die Quelle des Lebens selber ist.

Grenzen der Rekonstruktion
Das kann nur Gott und hier wird alles «Rekonstruieren» schwach, weil die Erinnerung, die Würdigung, das Schuldbekenntnis, die Wiedergutmachung in symbolischen Formen etc. keinen Grashalm wieder lebendig machen, wenn er verdorrt ist. Das ist wohl der letzte und erste Grund, warum alles Rekonstruieren gegenüber dem Glauben, gegenüber der Religion versagt, auch wenn es gegenüber anderen Gestalten der Kultur vielleicht möglich ist.

So haben die Städtebauer im 19. Jh. ja auch die alten Epochen der Kunstgeschichte «rekonstruiert» und die Städte sind voll von neubarocken Banken und neoklassischen Ratshäuern. Diese sind auch bemalt und ausgeschmückt, sogar mit religiösen Bildern. So mag es neoklassische Gottesbilder geben und neubarocke Formen der Gottesverehrung, aber was mit dem Glauben an einen lebendigen Gott gemeint ist, das wird nicht von Architekten «rekonstruiert», das erfordert eine lebendige Seele, einen Menschen, der diesen Schritt tut.

Abbildung Easby Abbey