Ein Christentum für unsere Zeit

Die Philosophie nach der sprachphilosophischen Wende spricht von „grosser Erzählung“, wo die Tradition von Mythen sprach. In der Geschichtswissenschaft kam der Terminus der „Meisterzählung“ auf. Das Christentum ist keines von beiden. Und es ist ein Missverständnis, wenn es dazu gemacht wurde. Andere Interessen haben sich daran angehängt.

Das herrschende Christentum
„Unter diesem Zeichen wirst du siegen“, das war die Verheissung an Kaiser Konstantin, der es zur Reichsreligion machte. Und so wurde es eben eine Reichsreligion, die zu siegen hatte.

Das Christentum siegte auch in der Philosophie und machte diese für Jahrhunderte zur Magd, zur „ancilla theolgiae“. Die „Meistererzählung“ der Historiker war noch ein Abglanz davon: so konnte das Christentum wenigstens für eine Epoche die Welt deuten, wenn es die Herrschaft schon verloren hatte. Heute hat es auch die Vormacht der kulturellen Deutung verloren. Damit ist kein Staat mehr zu machen.

Das dienende Christentum
Das Christentum ist zu einer Dienst-Erzählung geworden. Damit kann man nicht mehr herrschen. Damit kann man nicht mehr argumentieren. Es hört einem keiner mehr zu. Und alle falschen Freunde, die früher noch hoffen konnten, aufgrund seiner faktischen Geltung und Hochschätzung für sich selbst Geltung und Hochschätzung zu finden, verlassen das Schiff.

Mit dem Christentum kann man nur noch dienen. Es ist wieder dort angelangt, wo Christus mit seinen Jüngern war, als sie auf Jerusalem zugingen. Die Anhänger erwarteten, dass er dort in der Hauptstadt sein Reich aufrichten werde. (Es ging aber zur Passion.) Im Gespräch unter sich verteilten sie schon einmal die Ämter. „Lass mich zur Rechten oder zur Linken sitzen.“ Dort sitzen der Kanzler und der Minister. Bis Christus sich umdreht und sagt: In der Welt herrschen die Grossen über die Kleinen und sie bedrücken sie, aber bei euch soll es nicht so sein. Sondern wer unter euch gross sein will, der sei der Diener von allen.

Jetzt hat die Geschichte die Passionserzählung eingeholt. Wieder sind wir mit Jesus Christus auf dem Weg nach Jerusalem. Er hat keine Ämter zu verteilen. Mit ihm geht, wer sonst nichts hat. Aber: „Du hast Worte des ewigen Lebens“.

Barfuss-Doktoren
Bei Johannes wäscht er ihnen die Füsse und schickt sie so auf ihren Weg, wie Barfuss-Doktoren in der Dritten Welt. Seltsam, dass diese Form der Einsetzung nicht weiterlebte. Was weiterlebte, war die Investitur, wie im byzantinischen Kaiserreich. Da werden Hut und Siegel überreicht und Stab und Amtstracht. Und sie werden zur Herrschaft ausgesandt.

Am Ziel
Unsere Ankunft bei Christus erinnert aber mehr an die Ankunft des verlorenen Sohnes. Die Herrlichkeit haben wir verprasst. Das Gold haben wir durchgebracht. Und wir sassen bei den Schweinen und waren neidisch auf sie, denn sie hatten wenigstens zu essen. Aber wenn wir zurückkehren zu ihm, so sieht er uns schon von ferne kommen. Und er kommt uns entgegen. Er heisst uns willkommen. Und lässt uns ein Kleid bringen und steckt uns einen Ring an den Finger. Nicht zum Herrschen, das haben wir selber aufgegeben. Aber als Zeichen, dass wir Kinder sind und Erben. So kommt es uns zu, was er uns geben will: als Geschenk und aus Gnade.

 

Aus Notizen 2013
Foto von Eunice Lui von Pexels