Eingepflanzt in den Lebensbaum

Wenn wir uns dieses Bild vor Augen halten, so lernen wir, unser Leben anders zu verstehen. Unser eigenes Leben können wir nicht modellieren wie ein Werkstück auf der Werkbank. Und trotzdem gibt es auch in diesem Bereich ein sinnvolles Verhalten. Die Bibel nimmt als Bild nicht die Arbeit, nicht das Herstellen, sondern das Bild des Baumes.

An der Quelle
Im Glauben an Gott, im Vertrauen auf seine tätige Gegenwart in Jesus Christus, entsteht ein neues Leben, das ist die Botschaft von Ostern. Wie das gehen soll, das zeigt nun der Sonntag Jubilate, das zeigt Christus im Gleichnis vom heutigen Sonntag. Und er sagt es in diesem mystischen Bild. Es ist ein Bild für die Meditation, es ist eine konkrete Hilfe, und es zeigt einen Weg, wie wir im Alltag Orientierung finden.

Halten wir uns dieses Bild vor Augen: der Baum, dessen Wurzel weit hinabreicht, weit hinab bis zu einem Ort, wo fester Halt ist, bis zum Ursprung der Welt. Dort verwurzelt, kann ihn nichts erschüttern, denn er ist angeschlossen an die Quelle, aus der alles fliesst. Über dieser Wurzel erhebt sich der Stamm. Mächtig wächst er empor und trägt seine Krone dem Himmel entgegen. Jedes Jahr treibt er aus, er blüht und bringt Früchte hervor. Jedes Jahr blüht der Baum von neuem, jedes Jahr, jede Generation.

Auch heute blüht er wieder, in der Gegenwart. Wir, die wir heute leben, sind der Trieb für diesen Frühling. Aber so hoch der Stamm auch ist, so alt der Baum der Schöpfung auch geworden ist, wir sind durch die Wurzel verbunden mit dem Ursprung, wir sind angeschlossen an die Quelle aus der alles fliesst. Wir sind gehalten und können alles finden, was wir brauchen. Aber der Baum braucht auch uns. Wie soll er weiter wachsen, wenn die Blüte ausfällt? Wie geht es weiter, wenn die Frucht ausbleibt? Darum sagt Christus: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.“

Wenn wir uns dieses Bild vor Augen halten, so lernen wir, unser Leben anders zu verstehen. Wir leben unser Leben nicht für uns allein, wir sind Teil von etwas Grossem. Und alle Teile stützen einander, haben eine Aufgabe und haben Teil an der Schönheit des Ganzen. Dieses Leben, an das wir angeschlossen sind, wandelt sich, aber es geht nicht verloren. Der Tod ist überwunden, alle Grenzen des einzelnen Lebens sind überwunden, denn Der, der alles in der Hand hält, ist der Grund, auf dem wir stehen.

Mein Leben ist sinnvoll gewesen
Dieses Bild, wenn wir es im Alltag meditieren, kann unser Vertrauen stärken im Leben. Es kann uns Trost geben, wenn wir traurig sind. Aber es ist auch eine konkrete Hilfe. Und zwar für die Aufgaben in unserem Leben, die wir nicht einfach in der Hand haben und managen können: woher wir kommen, wohin wir gehen, wer wir sind. Wir Menschen haben uns nicht selber erschaffen, wir halten die Grundlagen unseres Daseins nicht in unseren eigenen Händen. Wir sind abhängig, oder positiv ausgedrückt: wir sind getragen und sind Teil von etwas, das viel grösser ist als wir.

All diese Fragen um Tod und Leben und um den Sinn des Lebens, die können wir nicht beantworten, indem wir uns selber Ziele setzen, sondern nur, indem wir uns aus dem Ganzen verstehen, indem wir leben. Wir sind nicht frei, was wir uns vornehmen, weil wir nicht alles Mögliche verwirklichen können. Es ist nicht wie bei der Arbeit, bei der Produktion von Dingen, wo der Phantasie kaum Grenzen gesetzt sind.

Unser eigenes Leben können wir nicht modellieren wie ein Werkstück auf der Werkbank. Und trotzdem gibt es auch in diesem Bereich ein sinnvolles Verhalten. Die Bibel nimmt als Bild nicht die Arbeit, nicht das Herstellen, sondern das Bild des Baumes. Leben kann gelingen oder misslingen, es kann ganz sein oder zerbrechen. Und das was hilft, das wird ausgesagt im Frucht-Bringen:

Dann gelingt das Leben, dann blüht es auf, auch in unserem Dasein, wenn wir uns anschliessen an die Quelle, die alles nährt. Dann gelingt es, wenn wir uns verbinden lassen mit der Wurzel, die aus dem Ursprung des Lebens bis zu uns herüber wirkt. Dann gelingt uns ein ganz neues Verhalten, wenn wir uns tragen lassen von dem Stamm und uns zur Verfügung stellen für das, was geschehen muss. Dann fliesst es, es blüht auf eine Weise, die man nicht berechnen kann, weil es auch nicht aus dem berechnenden Willen kommt. Dann trägt es Frucht.

Und im Rückblick wird man vielleicht sagen: mein Leben ist sinnvoll gewesen, zwar nicht dort, wo ich es gesucht habe, sondern an einem ganz anderen Ort. Aber dort ist mir etwas zugewachsen. Und ich war einbezogen in ein grosses Geschehen. Ich war ein Teil einer Gemeinschaft, die weiter geht.

Mystik und Politik
Das Bild vom Rebstock, vom Lebens-Baum, gibt dem einzelnen Leben einen Ort, eine Aufgabe, einen Sinn und eine Würde. Man spürt, man ist getragen, man kann seine Ängste beruhigen und findet Vertrauen für den eigenen Lebensweg. Man bekommt eine andere Sicht auf vieles, das einen beschäftigt. Man kann gelassener werden. Und man lernt, sich anzuvertrauen und sich führen zu lassen.

Das geschieht konkret im Gebet, dort kann man alles, was einen beschäftigt, vor Gott bringen. Im Vertrauen auf seine Gegenwart und Hilfe klärt sich vieles und erscheint in neuem Licht. Und wir erfahren Kraft und Freude für die Aufgaben, die vor uns stehen. So wird es uns leichter, das zu tun, was wir als richtig erkannt haben.

Und umgekehrt: wenn wir das tun, was wir sollen, dann bleibt auch unser Vertrauen aufrecht. Wer keine eigenen Schritte tut, dem zerfällt auch das Vertrauen wieder. So gehen Vertrauen und Handeln Hand in Hand, Ethik und Glauben gehören zusammen, Mystik und Politik. Unser Leben kann Frucht bringen, wenn wir auf die Wurzel vertrauen. Aber vertrauen können wir nur, wenn wir auch geschehen lassen, was geschehen will, wenn wir das anpacken, was nötig ist.

Das ist die Botschaft vom Sonntag Jubilate: eine Hilfe für das Leben, ein Bild, wie das aussehen kann: ein neues Geschöpf zu sein in Jesus Christus – eingepflanzt in diesen Lebensbaum.

 

Aus Notizen 2006
Foto von Lukas Rodriguez von Pexels