Die Abschaffung der Angst

Wenn brutale Akte geschehen, wenn Zeitungen von Vorfällen berichten, hat man oft das Gefühl, die Zivilisation sei nur ein dünner Mantel, der dem Menschen übergestülpt sei. Es brauche nicht viel, so werde er fallen gelassen und darunter tauche das «wahre Gesicht» hervor: der Mensch als brutales Wesen.

Das Verhalten im Krieg
Dazu passt, was Michael Hampe in der Zeitung schreibt. In Grenz-Situationen werde nicht die wahre Natur eines Menschen oder „des“ Menschen aufgedeckt. Es führe ihn einfach zu einem Grenz-Verhalten, wo er Dinge mache, die in „normalem“ Zustand nicht möglich wären: „Im Krieg wird die Kontinuität des Selbst zerstört. Eine ganz normale Person begeht Grausamkeiten, (…) die der Person selber später ganz unverständlich erscheinen. Auf diese Weise entsteht eine Diskontinuität. Im Krieg wird also sichtbar, dass es keinen Wesenskern des Selbst gibt, sondern nur Lebensgeschichten.“

Das Erschrecken vor den Menschen
Ich erinnere mich an mein Erschrecken vor Menschen: wenn sie sich zusammenrotten. Ihre Unberechenbarkeit, wenn die Verantwortung des Einzelnen ausfällt, seine Gewissens-Steuerung, seine Ansprechbarkeit, die Appellmöglichkeit an sein Gewissen, seine Verhaltenskontrolle. Und wenn die Dynamik der Gruppe das Verhalten bestimmt. Das grölende Bejahen des Grenzübertritts, das rauschhafte Begehen der Übel, die das Gewissen verbietet, die Seligkeit des Aufgehobenseins in einem Gruppen-Ja, auch wenn alle Verbotslinien übertreten werden – und gerade darum die Seligkeit.

Gespensterjagd?
Der Schreck über die Menschen ist in mich eingebrannt. Das macht das Misstrauen aus. Mit Hampe könnte ich mich jetzt beruhigen: Es gibt gar kein „Selbst“, das sich in solchen Erlebnissen enthüllt und sein „wahres Gesicht“ zeigt: der Mensch als grausames Wesen. Das ist eine „Hypostasierung“ des Menschen aus der Erfahrung der Angst.

Was gewinne ich damit? Ich könnte den Begriff des Menschen reinigen, ihn als besseres Wesen sehen. An meinem Misstrauen gegenüber den Menschen arbeiten. Aber das „Böse“ wird dann nur aus dem Menschen hinausverlagert in die Umstände. Der Mensch wird reingewaschen, wird zu einem reaktiven Wesen, das aus den Umständen zu verstehen ist. Die Umstände werden dafür aufgeladen. Dorthin ist die Beweislast jetzt verlagert. Dort sind dieselben Probleme jetzt abzuhandeln, die die Kultur früher am Menschen diskutierte:

Ist die Welt ein finsteres Loch?
Was ist gut, was böse? Was ist Unglück, was Glück? Warum gibt es Leid? Wie ist Gerechtigkeit zu finden? Woher die Lust am Quälen? Gibt es Verantwortung und Zurechenbarkeit von Taten? Gibt es ein Gericht? Kann der Mensch sich ändern? Gibt es Heilung? Gibt es Heil? Aus eigenem Tun? Oder durch Erlösung? Ist die Welt ein finsteres Loch, das nicht zu retten ist?

Hampe zitiert Spinoza. Nach ihm gibt es kein „Selbst“, das der Wirklichkeit entzogen wäre und der Welt gegenüberstünde. Das folgt bei Spinoza aus dem Einwohnen der Gottes-Ursache. Er kennt keinen weltüberlegenen Schöpfer. So gibt es auch keinen welt-überlegenen Kern des Menschen. Das entspricht nicht dem biblischen Bild, nicht der Hauptströmung des Alten und Neuen Testamentes. Es sieht aus wie die „Entmythologisierung“ des Menschen im Zug der hirnphysiologischen Abschaffung der „Seele“. Es ist aber nur ein anderer Mythos. Der der Immanenz.

Die alten Fragen
So beruhigt sich mein Erschrecken über die Welt nicht. Das löst die Starre nicht, mit der sich das Kind angesichts der Angst totstellt. Das ist kein Argument gegen die Depressionen und Angst-Attacken, die ein Leben lang aus diesem Totstellen aufsteigen. Das ist kein Zuspruch, mit dem ich aufstehen, keine Haltung, mit der ich die Kinder in die Welt einführen kann.

So wird der „Mensch“ freigesprochen. Aber die „Welt“ wird dämonisiert. Das landet früher oder später bei einer neuen Gnosis. Die Bibel hat solche Konzepte zurückgewiesen. Sie hält fest am weltüberlegenen Gott, am Schöpfer, der nicht in der Schöpfung aufgeht. Und am Geschöpf, das einen Kern besitzt, der „in der Welt, aber nicht von der Welt“ ist. Es hat damit eine Würde über alle Bestimmungen der Umwelt hinaus, über alles In-Anspruch-Nehmen, über alles Relativieren und Funktionalisieren.

Es wird kaum mehr geglaubt. Heute wird immer von Individualismus gesprochen. Aber es ist nur ein Partikularismus. Familien sind der Funktion entledigt und zersprengt. Der einzelne wohnt allein, arbeitet allein, hockt allein im Auto. Er vermittelt sich über Markt und TV mit der Allgemeinheit. Und wenn er über die Beerdigung nachdenkt, möchte er als Asche im Meer verstreut oder „im All“ verteilt sein. Er möchte „zurückkehren in den Kreislauf des Lebens“. So werden wir zu Einzelnen – aber nicht zu Individuen. Darum finden sich kaum noch starke Charaktere.

Seele als Beziehung
Der Individualismus alten Stils setzt eine „Seele“ voraus, eine unmittelbare Beziehung zu etwas Absolutem. Das ist nicht nur die Frage, ob nach dem Tod „etwas vom Menschen“ übrig bleibe. Es ist auch eine Frage des Lebens vor dem Tod. Gegenüber dem Absoluten gibt es ein Einkehren, ein Sich-Einfinden in der Mitte. Es gibt das Gebet. „In der Welt habt ihr Angst, aber fürchtet euch nicht, ich habe die Welt überwunden.“ So spricht Christus im Evangelium. Er ist der Mensch, der die neue Unschuld gefunden hat. Er ist es, der ohne Angst auf Menschen zugehen kann (und der dazu nicht die Hölle der historischen Erfahrung auf die Umstände auslagern muss).

Er ist der, der Frieden stiftet, weil er es annimmt, bis ins Äusserste seiner negativen Möglichkeiten. Und der sagt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23, 34) Frieden gibt es erst nach dem Kreuz. Und dass es da Frieden gibt, das hilft mir im Leben.

 

Aus Notizen 2007.

Der zitierte Artikel von Michael Hampe: „Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko“ im „Tages Anzeiger“ vom 11. Mai 2007.

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