Der Heiland

„Heiland – ein tiefes Vertrauen spricht aus diesem Namen. Gott ist jemand, der fest zum eigenen Leben gehört. Und das eigene Leben ist gehalten und verankert wie im Urgrund der Welt.

Der Heiland des Kindes
Heiland – als Kind haben wir so gebetet. Wir haben diesen Namen angerufen und wir fanden ein „Du“, mit dem wir reden konnten. Und wenn wir den Namen sagten, war es, als ob hinter der Wirklichkeit dieser Welt ein Gesicht auftauchte. Und es blickte voller Liebe auf uns. Alles, was uns begegnet ist, von aussen und von innen, konnten wir vor ihn bringen. Und er hörte und verstand. Es war, als ob die Welt eine verborgene Mitte hätte. – In der Gestalt des Heilands trat sie uns gegenüber.

Wenn wir heute so beten, wirkt es kindlich. Und manchmal denken wir an unsern Kinderglauben wie an ein verlorenes Paradies: so sicher in der Gewissheit, dass wir gehalten sind und geführt werden. Oft wünschen wir, wir könnten wieder so fest vertrauen – in den Auseinandersetzungen, in denen wir heute stehen, als Erwachsene.

Der Auftrag der Ahnen
Aber wenn wir in die Kindheit zurückgehen, begegnet uns nicht nur dieses Vertrauen. Es begegnet uns auch all das, was unser Vertrauen ins Leben erschüttert hat.

Es ist wie die Suche nach einem Schatz, und wenn wir vor ihm stehen, sehen wir, dass ein Ungeheuer auf ihm hockt. Und wir müssen erst mit dem Ungeheuer kämpfen.
Wenn wir als Erwachsene auf unser Leben zurücksehen, begegnet uns nicht nur unser eigener Lebensweg. Da sind die Geschwister, die Eltern und was sie erlebt haben, die Grosseltern. Es gibt Familiengeschichten, da ist viel Unglück geschehen. Und von Generation zu Generation verdichtet sich die Frage: Was ist das Leben eigentlich, dass es immer wieder diese Wege geht? Was ist diese Wirklichkeit?
Ist sie ein Loch, in dem wir verloren gehen – oder gibt es einen Gott? Dürfen wir dem nachgeben, was in uns leben will und hoffen? Und es wird manchmal wie ein Auftrag für ein Kind, diese Frage zu beantworten. Als ob die ganze Geschichte der Familie darauf hinausliefe, hier eine Antwort zu finden.

Der Suchweg
Und das Kind beginnt einen Suchweg. Und mehr und mehr wird es ein Heilungsweg, wo all das auftaucht, was nach Heilung sucht, in der Geschichte dieses Kindes, in der Geschichte dieser Familie.
Unter diesem Weg wird das Kind älter. Neue Fragen tauchen auf, es versucht viele Wege. Und es vergisst vielleicht den Auftrag, den es als Kind einmal angenommen hat. Und aus dem Kind wird ein Erwachsener.
Aber irgendwo ist dieses Gesicht immer noch lebendig, zu dem es als Kind gebetet hat. Dieser Heiland der Welt, der liebevoll auf ihn sieht. Und die Frage ist noch nicht beantwortet. Darum taucht sie wieder auf, vielleicht, wenn die drängendsten äusseren Fragen erledigt sind, vielleicht nach einem Erlebnis, das ihn tief berührte.

Es gibt sie doch, diese Liebe! Und es ist ja mit Händen zu greifen, dass wir Menschen diese Welt nicht gemacht haben. Kann das Geheimnis dieser Welt so schlecht sein, wenn diese so viel Schönes und Wunderbares hervorbringt? Und doch, da sind auch die andern Erlebnisse – schon bei der Erinnerung stockt der Atem, man fühlt sich wie gelähmt!

Der verlorene Glaube
Und der Mensch auf diesem Weg begreift, warum er nicht mehr so glauben kann wie früher. Weil er sich mit Händen und Füssen dagegen wehrt. An gewisse Dinge will er nicht mehr erinnert werden. Er sucht Sicherheit, Kontrolle. Er kann gar nicht mehr Vertrauen haben, Vertrauen ist ihm zu wenig sicher.
Vertrauen, Glauben – das ist das Gegenteil von Sicherheit, eine Haltung, die sich öffnet, statt sich zu verschliessen. Eine Haltung, die der Welt und Gott etwas Gutes zutraut, aber im Wunsch nach Sicherheit ist man gebunden an die schlechte Erfahrung, man verewigt sie. Darum will man die Welt und das Leben unter Kontrolle halten. Wo Sicherheit herrscht, da hat der Glaube keinen Raum. – Es sieht so aus, als ob der Schatz-Sucher nur das Ungeheuer gefunden hätte, das auf dem Schatz hockt. Und im Kampf ist er unterlegen.

Am Wegrand
Aber der Sucher erinnert sich, und jetzt kommt etwas Neues hinzu: Er liest die Bibel, geht wieder zur Kirche. Und weil er offen ist, wird er erschüttert von dem, was er hört und liest. Es ist als ob er „gleichzeitig“ würde mit den Geschichten des Neuen Testamentes. Auch er ist dabei, wenn Jesus durch die Dörfer zieht. Auch er ist einer in der Menschenmenge, die zusammen strömt.

Er steht da – mit all denen, die Hoffnung haben. „Bist du es der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ So fragt er Christus mit den andern, und er hört die Antwort. „Berichtet, was ihr hört und seht: Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht, und selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“ (Mt 11,3)

Der Suchende, steht am Wegrand wie der blinde Bartimäus und ruft nach seinem Heiland. Und Christus hört ihn, heisst ihn aufstehen und fragt: Was willst du, dass ich dir tue? Ein anderes Mal klettert er auf den Baum wie Zachäus. Er will dabei sein, wenn Christus kommt. Aber er getraut sich nicht auf dem geraden Weg. Er schämt sich und stellt sich hinten an. Und er erlebt mit Zachäus, dass Christus unter dem Baum vorbeizieht. Aber jetzt hält er an, er schaut zu ihm empor und sagt: „Komm herab, denn bei dir muss ich heute zu Gaste sein!“ Was – bei einem Unwürdigen!“ rufen die Menschen rundherum. Aber Christus sagt: „Der Sohn des Menschen ist gekommen, um das Verlorene zu suchen und zu retten.“ (Lk 19)

Ein Weg durch alles hindurch
So wird aus dem Suchenden allmählich einer, der findet, oder besser: einer der schon gefunden ist, von dem Heiland, der ihm entgegen kommt wie der Vater dem verlorenen Sohn.

So findet der Suchende einen Weg im Leben: einen Weg durch all das hindurch, was vor ihm steht, nicht an dem Schweren vorbei. Denn das war eine Sackgasse, das hat nicht weitergeführt. Er findet den Weg nicht, indem er wegschiebt, was weh tut. So bricht es immer wieder durch. Es macht Angst und verlangt nach Kontrolle und Sicherheit. Er findet den Weg nicht, indem er seine Niederlagen verleugnet und seine Fehler von sich weist. Er findet den Weg im Vertrauen zu diesem Gottessohn, der sogar Aussätzige berührt. Er weicht Kranken nicht aus und Schuldige verurteilt er nicht. Vor Armen ekelt er sich nicht, selbst Toten gibt er neues Leben.

Der Heiland des Erwachsenen
So findet er den Heiland wieder, sein Vertrauen ins Leben und einen Weg, wo er gehen kann – auch als erwachsener Mensch. So wird sein Glaube mehr und mehr erwachsen und sein Verhalten. Aber getragen von einem Vertrauen, das verschüttet war und jetzt wieder fliessen darf. Er findet zu einem Glauben, der Leben schenkt wie eine Quelle, wie Johannes erzählt. (Joh 4,1-42)

Es ist eine lebendige Quelle und ein lebendiger Heiland, auch wenn diese Ereignisse 2000 Jahre zurückliegen. Das ist die Botschaft der Feste, die wir bald feiern, Auffahrt und Pfingsten: dass Gott gegenwärtig ist. „Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen“, sagt Christus in seinen Abschieds-Reden. Euer Herz lasse sich nicht beunruhigen und verzage nicht. Ihr habt gehört, dass ich gesagt habe: Ich gehe hin und komme zu euch. Ich werde den Vater bitten und er wird euch einen andern Beistand geben, damit er in Ewigkeit bei euch sei, den Geist der Wahrheit.
Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch.“

 

Aus dem Buch: Die Hälfte meines Pfarramtes. Die Mitte meines Pfarramtes,
Notizen 2004 – 2005, von Peter Winiger.