Stirbt Gott in den Unglücken dieser Welt?

Die grossen Fragen

Zwei grosse Fragen beschäftigen heute die Menschen: Klimawandel und Artensterben. Sie bedrohen das Weiterleben der menschlichen Zivilisation in ihrer heutigen Gestalt. Auf anderer Ebene liegt der Abbruch der christlichen Tradition, aber auch das ist ein Ereignis von säkularer Tragweite. 2000 Jahre lang wurde der Stab im Staffetenlauf der Generationen weitergegeben, erstmals soll das jetzt abbrechen und das Christentum zum Spott und zum Schimpfnamen werden.

Als Vater möchte man die Kinder behüten. Aber man ist selber Teil dieser Welt. Man reproduziert, was sie ausmacht, und gibt weiter, was sie zerstört und uns kaputt macht.

Ist Gott in all dem nur Objekt? Ist er tot, wenn wir nicht mehr von ihm erzählen? Stirbt er mit der Tradition? Haben also all die Kritiker recht, die Religion als Kulturphänomen betrachten, als Projektion, als eine Vorstellung des Menschen, die mit ihm ausstirbt, so wie wir bei Baugruben vor den Artefakten der Pfahlbauer stehen und aus den Grabbeigaben erschliessen, dass sie so etwas wie eine Religion gehabt haben, ein fremdes Gebilde, zu dem wir keinen Zugang mehr haben?

Versagt unser Erzählen von Gott?
Die Menschen der Bibel haben dort nicht nur ihre Erfahrungen festgehalten, auch ihr Nachdenken findet sich dort, über eine lange Zeit. Der Prophet Jeremia lebte zur Zeit der grössten Herausforderung, als nach dem Nordreich auch das Südreich überfallen und ins Exil verschleppt wurde.

Da blieb kein Stein übrig von der alten Herrlichkeit und kein Buchstabe schien noch zu gelten von den alten Verheissungen: auf Eigenstaatlichkeit unter einer Königsynastie, auf Frieden und Wohlstand. Wenn er die Ereignisse darstellen wollte als von Gott gefügt, dann musste er immer Strafe ansagen. Kaum je gab es eine Verschnaufpause in der Kadenz der Unglücksfälle. Vielleicht hat er sein Leiden an einer solchen Aufgabe selber überliefert, vielleicht sind es die Nachkommen, die seine Aufgabe reflektierten und die ihn bei all dem begleiteten mit Berichten und Klagepsalmen, in denen er seinem Leiden Luft macht.

So klagt er vor Gott, dass er immer nur Unglück ansagen muss. Er wird in die Isolation getrieben. Niemand hört auf ihn, er wird verspottet und verfolgt. Schliesslich verflucht er den Tag seiner Geburt – ein Kontrast zu seiner Berufung, wo Gott sagt, dass er ihn schon von Geburt an ausgesondert habe zu seinem Werk.

Versagt etwa Gott in der Katastrophe der Welt?
Die Menschen, die die Bibel überliefern, begleiten Jeremia auf seinem Weg. Und aus der Frage nach dem Schicksal des Propheten wird eine Frage an Gott selbst: Kann er sich denn nicht durchsetzen auf der Welt? Ist sein Wort kraftlos? Lässt er die im Stich, die sein Wort ausrichten?

Und wenn er Untergang und Zerstörung bringt – ist es das, was ihn ausmacht? Weiss er darüber hinaus nichts zu sagen? Ist er ein «zorniger Gott» und nichts darüber hinaus? Ist seine Gnade, sein Erbarmen, von dem die Tradition erzählt, ohnmächtig gegenüber seinem Zorn?

Das Neue Testament schliesst daran an. Gott schickt seine Propheten, heisst es im «Gleichnis von den bösen Weingärtnern», sie töten sie. Da schickt er seinen Sohn, sie bringen ihn um, damit sie den Weinberg allein besitzen. Darauf macht er alle nieder. – Ist das die Souveränität Gottes, zeigt sich so der starke Gott, der den Dingen gewachsen ist?

Ein Nachdenken, an dem das Leben hängt
Das Nachdenken in der Bibel bleibt dabei nicht stehen. Und es ist kein Nachdenken vom Schreibtisch aus, es ist ein Nachdenken, an dem das Leben hängt.

Die Frage nach dem Weg, den die Botschaft nimmt, das ist die Frage nach dem Weg Gottes selber. Welchen Weg nimmt er in der Welt? Kann er sie erlösen oder ist er ohnmächtig? Will er sie erlösen oder ist er gar kein Gott, sondern ein Dämon, der sein Spiel mit den Menschen treibt?

Oder thront er über all diesen Unterscheidungen, die menschliches Gutbefinden hervorbringt, ist er erhaben über Güte, Erbarmen und Vergebung und muss sich der Glaube, wenn er nicht ganz verloren gehen will, einrichten in einer erbarmungslosen Wirklichkeit, die – gemessen an den alten vertrauten Landschaften einer religiösen Geborgenheit – einer gottlosen Welt gleicht, in der Prinzipien herrschen, die vom Menschen mit seinem psychischen Apparat nicht verstanden werden können, allenfalls von einer kalten Vernunft, die nach der Katastrophe den Satz spricht: «Es musste so sein! Es konnte gar nicht anders kommen! Haben sie sich nicht selber ihr Grab gegraben?»

Diesen Weg von Vertrauen und Zweifel bin auch ich im Jahr 2011 gegangen. Ich bin kein Prophet, aber als Pfarrer musste ich jeden Tag vor Menschen hintreten und Antwort geben. Mein Tun ist nicht der Rede wert, aber das Evangelium war mir doch aufgetragen. Was ich denke, interessiert niemanden, aber es war doch die Grundlage, auf der ich die Botschaft ausrichtete, wie ich versuchte, am Glauben an Güte und Barmherzigkeit festzuhalten, aber auch an der Pflicht zu Recht und Gerechtigkeit. Und wie Jeremia wurde es mir bald zu viel, auch wenn ich mich in keiner Weise mit Jeremia vergleichen kann.

Rollenprosa und Propheten
Hilfreich wurde mir auch eine Textsammlung, die ich im Jahr 2011 anlegte: «Rollenprosa und Propheten». Erst trösteten mich die Ereignisse im Leben der Propheten, wo sie auf Widerstand stiessen, kein Gehör fanden. Dann sah ich, dass die Bibel selber darüber ins Nachdenken geriet: warum Gott kein Gehör findet, warum seine Propheten verfolgt werden.

Das geht weiter bis ins Neue Testament, wo selbst Gottes Sohn abgelehnt wird. «Er kam in das Seine und sie nahmen ihn nicht auf», so fasst der Johannes-Prolog es zusammen.

Muss die Rede von Gott scheitern?
Es ist hilfreich und spannend, der Bibel zuzusehen, wie sie diese Erfahrungen verarbeitet und nach Antwort sucht. Die Erfahrungen mit der Botschaft, werden in diese selber eingetragen. Schon bei der Berufung der Propheten klingt es an, dass sie auf Widerstand stossen werden. Die Klagepsalmen Jeremias begleiten ihn auf seinem Weg. Und wenn er bei der Berufung noch «ja» sagen konnte oder «nein» («ach, Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung»), hier zeigt die Erfahrung einen ganzen Stationen-Weg, den sein „Amt“ mit sich bringt. Das hilft und bringt Trost. Und es zeigt, wie Gott seine Sache doch ans Ziel bringen wird.

Die Aussendungsrede im Neuen Testament, die die Berufung der Propheten im Alten Testament aufnimmt, kann den Boten schon einen ganzen Stationen-Weg vor Augen stellen. Sie wird somit wie ein Inbegriff all dieser Szenen und Erfahrungen: Auftrag, Widerstand, Leiden, Zusage des göttlichen Beistandes. Dazu gehört auch die Erfahrung des Versagens der Menschen in diesem Amt. Trotzdem und durch alles Versagen hindurch geht das Wort seinen Weg zu den Menschen und über die Welt.

Das verdeutlicht einen Aspekt aus dem Alten Testament: Die prophetische Rede, die Rede von Gott wird scheitern, das Gericht kommt und Gott hat darin trotzdem nicht versagt! Das war für die frühe Kirche und die Anhänger Jesu von kritischer Bedeutung: Wie den Skandal der Kreuzigung verstehen? Sollte Gott, wenn er in die Welt kommt, diese nicht retten können? Die Soldaten spotten: Wenn du der Erlöser bist, rette dich und uns!

Es liegt nicht an den Menschen, die von Gott reden wollen und nur stammeln können, die nicht sagen können, was nötig wäre, die es nicht so sagen können, dass es gehört würde an den Orten und zu den Zeiten, wo es drauf an käme. –

Es geschieht notwendig so, Gott selber, als er kommt, wird nicht erkannt, man verspottet ihn wie früher die Propheten, man übergeht ihn, wie früher die Weisen, man schlägt ihn, wie früher die Mahner, man bringt ihn um, wie früher die Unbequemen, die keine Ruhe gaben.

Was sollten Menschen da ausrichten? Und trotzdem ist ihre Arbeit gefordert bis zum letzten Atemzug! Trotzdem ist ihre Mühe nicht umsonst, trotzdem braucht es ihre Liebe, und wäre es nur, damit sie über ihrer Berufung nicht verbittern und ihr Amt und ihr Leben nicht verfluchen, wie weiland Jeremia.

Die Zusammenstellung der Texte zu Rollenprosa und Propheten endet mit diesen Worten:

Gott versagt und er siegt, er wird getötet und bringt das Leben zurück. Er stirbt am Kreuz und aufersteht aus der Grabhöhle. Und er stellt sich an den Anfang des Zuges. Und Millionen ordnen sich hinter ihm ein. Und die Trompeten und Fanfaren, die erschallen, das sind die Seligpreisungen: «Selig die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden! Selig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!»

 

Aus dem Nachwort zu «Der Starke Gott, Notizen 2011». Der Text «Rollenprosa und Propheten» ist auch separat als Broschüre erschienen und kann im Download-Bereich dieses Blogs heruntergeladen werden.

Foto von Harrison Haines von Pexels