Das schwarze Schaf der Familie

Ein Weg aus systemischen Zwängen

Schönheit, ein erfülltes Leben, sich entfalten, Gesundheit – die Bilder, die wir haben vom Glück, sind geprägt von unserem persönlichen Leben. Wir leben heute vereinzelt. In der Hälfte der Haushalte lebt heute nur ein einziger Mensch. So ist auch das Glück individuell, das wir uns vorstellen. Und Bibel-Texte, die von Freiheit reden, und dass Gott sein Volk aus der Gefangenschaft führt, sind uns fern.

Wie ist es denn mit unseren Erfahrungen von Gemeinschaft? – An Weihnachten kommt die Familie zusammen – nicht nur die, mit denen man im Alltag Kontakt hat. Auch jenen Bruder trifft man wieder, mit dem man sich auseinander gelebt hat, und die Schwiegermutter, von der man sich nie wirklich akzeptiert gefühlt hat.

In manchen Familien gibt es so etwas wie ein schwarzes Schaf. Wenn dem Hans etwas geschieht, so finden es gleich alle typisch. So ist er eben! Oder wenn Tante Trudy einen Fehler macht, wundert es niemanden, man hat es immer gewusst.

Bilder prägen. Sie sind entstanden, aufgrund von Erlebnissen. Hans ist wirklich ein paar Mal in etwas reingerasselt, und Trudy hat wirklich Fehler gemacht. Aber die Bilder, die wir von ihnen haben, weisen ihnen auch einen Platz zu. Und solche Bilder können fest werden wie ein Gefängnis, aus dem man kaum mehr ausbrechen kann.

Kein Wunder machen die Bilder etwas mit den Menschen, die das immer hören. Irgendwann sagen sie „ja“ dazu. „Ja, dann bin ich halt so!“ „Ich bin wirklich anders. Ihr wollt es ja so, jetzt müsst ihr mich auch haben.“ So entsteht ein schwarzes Schaf, das trotzig die Rolle spielt, die man ihm zugewiesen hat.

Denn es ist eine Rolle, machen wir uns nichts vor. Das schwarze Schaf hat seinen Ruf nicht nur abgekriegt, weil es immer „nebet use haut“. Andere haben das auch getan und werden nicht immer blossgestellt. Das schwarze Schaf hat eine Rolle, es erfüllt eine Funktion: Die Schwester, wenn ihr ein Missgeschick passiert, ist aus dem Schneider, denn der Bruder ist ja der, der immer alles kaputt macht. Oder der Bruder steht gut da, denn es gibt jemanden, auf den sich die Enttäuschung und der Zorn konzentrieren, der „abonniert“ ist auf diese Rolle vom Blitzableiter.

Das geht bis in die Geschäfts-Etagen: Im Konkurrenzkampf tut es gut, wenn es einen Versager gibt in der Firma. Man hat nicht selbst den Schwarzen Peter.

Jetzt tauchen andere Bilder auf von Glück, oder was Glück beeinträchtigt. Wir leben nicht nur für uns allein, wir sind immer Teil einer Gemeinschaft. Wir erfahren die andern Menschen in Form von Erwartungen, die sie an uns richten, als Rollen, die wir spielen, und wir erfahren Anerkennung oder Ablehnung, je nachdem wie wir den Erwartungen gerecht werden. Und mit der Zeit bildet sich ein Ruf heraus, ein Name. Man kennt die Menschen halt mit der Zeit, oder man meint, sie zu kennen. Ihr Name geht ihnen voraus. So hat man sie erlebt.

Dieser Ruf, den wir haben, ist eine Folge von dem, was wir tun. Umgekehrt beeinflusst er aber auch das, was wir machen. Und manchmal prägt er ein Bild wie ein Gefängnis. Eine Rolle verfestigt sich. Und so wird jemand zum Aussenseiter – oder auch zur „G‘müts-More“, die immer Witze macht, die sich die Verantwortung auflädt für das gute Klima in einer Familie…

Viele Rollen gibt es da, vom Anführer bis zum Mitläufer, vom Kritiker, der überall das Haar in der Suppe sieht, bis zum Berufs-Optimisten, vom Macher, der alles in die Hand nimmt, bis zum „Therapeuten“. Dieser lädt sich die Sorgen der anderen auf und spürt schon als kleines Kind, was die Mutter plagt. Er hilft ihr. So findet er Anerkennung und eine Rolle im Familiengefüge.
So werden Lebenspläne geschmiedet, man spürt es kaum, Identitäten werden geprägt, die einen ein Leben lang begleiten.

So weit, so gut! – Könnte man sagen, wenn das nicht auch eine Quelle von Leiden wäre, wo ein Leben verbogen wird, oder wo eine Gemeinschaft einen unguten Weg geht.

Gefangenschaft
Das schwarze Schaf, das in der Familie isoliert wird, erlebt einen grossen Leidensdruck. – Der Jugendliche, der nicht gut tut, und irgendwann seine dunkle Rolle übernimmt und zum Aussenseiter wird; das Kind, das von der Schulklasse gehänselt und geplagt wird und sich nicht mehr in die Schule traut; der Mitarbeiter, der am Arbeitsplatz immer wieder vorgeführt und blossgestellt wird – sie alle erleben Gemeinschaft von einer unguten Seite.

Die Gemeinschaft denkt, sie sind das Problem, die Gruppe zeigt mit den Fingern auf sie und nimmt sie als Ursache der Probleme wahr. Sie aber fühlen sich ohnmächtig und wie gefangen in einem Alptraum. Es ist wie verhext. Sobald sie in diese Gruppe kommen, legt sich wie ein Joch über sie. Sie wissen, wie sie gesehen werden, und so verhalten sie sich auch.
Mit andern Menschen, aus andern Gruppen, können sie normal verkehren. Darum wissen sie noch, dass sie normal sind. Aber sobald sie in diese Gruppe kommen, verändert sich ihr Verhalten. Sie tun das, was erwartet wird, aber das, was sie selber gern tun würden, das können sie nicht. Sie bestätigen das Bild, das die andern sich von ihnen machen.

Befreiung
Es ist wie ein Gefängnis. Sie können nicht ausbrechen. – Ist die Rede von Gefangenschaft also fremd für uns? –
Es sind nicht wenig Menschen, die sich in ihrem Leben unfrei fühlen, verstrickt in Zusammenhänge, die sie selber nicht lösen können.
Ist es verkehrt, wenn sie auf Gott hoffen? Sagt er beim Propheten nicht, dass er kommt,

Um den Elenden frohe Botschaft zu bringen,

Zu heilen, die gebrochenen Herzen sind,

Den Gefangenen Freiheit zu verkünden

und den Gebundenen Lösung der Bande? (Jes 61, 1f)

 

Welche Hilfe gibt es für solche Menschen, die in „systemischen“ Zwängen stecken? – So redet die moderne Seelsorge davon. Sie nimmt damit zur Kenntnis, dass unsere Lebenssituation mitbestimmt wird durch die Gemeinschaft, der wir angehören.
Es ist klar, dass übergeordnete Stellen in diesem „System“ eine Verantwortung haben: Eltern, Lehrer, Behörden, Arbeitgeber. Aber was kann der einzelne selber dazu tun? – Kann er das überhaupt: etwas tun, da er sich doch als Opfer fühlt? – Ja, es gibt etwas, es gibt eine Art von Mitspielen in diesem Theater, wo auch der einzelne etwas tun kann, um davon weg zukommen. Aber es braucht viel Vertrauen. Darum ist die biblische Botschaft wichtig. Die Zusage Gottes für alle Menschen.

Solche Menschen haben oft wenig Selbstvertrauen. Sie haben oft schon in der Kindheit eine Schwächung erlebt. Darum werden sie auch „ausgewählt“, wenn eine Gruppe ein Opfer sucht, an dem sie ihre Impulse abführen können.
Ich denke an einen Menschen aus der Seelsorge. Er ist nicht von einer religiösen Gruppierung losgekommen, obwohl er dort immer wieder „abe-g‘macht“, wie Dreck behandelt wurde. Warum lässt er sich das gefallen? fragte ich mich. Bis ich begriff: Er war das von Kindheit an gewohnt. Und wenn er wieder „abe-g‘macht“ wurde, hatte er so etwas wie ein Aha-Erlebnis: Ja, so ist es, ich bin nichts wert. Endlich sagt einer die Wahrheit über mich.
Man konnte ihm hundertmal sagen, er sei ein wertvoller Mensch, er hörte es nicht. Er nahm es als billigen Trost. In Wirklichkeit, denkt er, haben sie eine ganz andere Meinung von mir. Ich bin nichts wert. Er hat die Sicht der andern übernommen. Er spielt mit in dem Spiel. Er setzt sich selber herab und überbietet die andern noch in der Kritik, als ob er ihnen damit Wind aus den Segeln nehmen könnte – damit ihr Zorn an ihm vorübergeht.

Was hier fehlt ist Wertschätzung. Und wer sich selber nicht wertschätzen kann, wird das auch nicht von andern erfahren. Sich selber wertzuschätzen in so einer Situation, das ist aber ein Kunststück, wie sich selber am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Darum ist der Zuspruch von aussen wichtig. Darum ist das Evangelium wichtig. Darum kann der Glaube eine grosse Rolle spielen beim Heilen. Denn im Glauben erfährt der einzelne einen unbedingten Wert.

Wertschätzung – das ist das, was Menschen in dieser Situation helfen kann:
Gegen die Entwertung, die sie seit ihrer Kindheit erlebt; gegen die Entwertung, die sie verinnerlicht haben, als ob es die Wahrheit sei; gegen die Entwertung, die sie immer wieder einstimmen lässt, wenn jemand verächtlich von ihnen spricht.
Der Weg ist Wertschätzung. Wertschätzung auch von dem, was sie gelebt haben. Auch wenn sie gleich widersprechen würden, sie hätten ja nichts geleistet. Aber Gott hat sie geführt auf diesem Weg. Er hat sie aufgesucht im Exil. Sie waren nicht von Gott und Welt verlassen, als sie die dunkelsten Stunden ihres Lebens erlebten (das, von dem sie niemandem erzählen). Gott war bei ihnen. Gott war im Exil, wie damals mit seinem Volk in Babylon.

Darum ist diese Zeit nicht wertlos, die sie am liebsten aus ihrer Biographie streichen würden. (Aber so lange sie sie ablehnen, so lange bleiben sie darin gefangen.)

Sie dürfen die Vergangenheit annehmen, weil Gott sie annimmt. Was schrecklich ist und unaussprechlich – Gott hat es geheiligt durch seine Gegenwart. Und so, aus dem Annehmen der Vergangenheit, aus dem Versöhnen mit dem, was war, wächst der Weg in die Zukunft. Gott führt auch heute sein Volk aus der Gefangenschaft und schenkt Befreiung.

Darum dürfen wir die Botschaft glauben, als ob sie nur für uns in der Bibel stünde. –
Sie steht für uns in der Bibel: „Tröstet, tröstet mein Volk! Spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat. Um euretwillen habe ich nach Babylon geschickt und die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen. Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will Neues schaffen, schon beginnt es zu wachsen. Hört ihr es nicht?“

Segen
Der Segen richtet sich meist auf die Zukunft. Aber ohne Versöhnung mit der Vergangenheit gib es keine Zukunft. Darum steht hier ein Segen für den vergangenen Weg, den wir Menschen gegangen sind, auch wenn dort etwas Verletzendes verborgen sein mag:

„Ich segne deine Vergangenheit, spricht Gott,

dass du als der Mensch, der du bist,

den Ich hierher geführt habe,

mit all deinem Denken und Fühlen,

jetzt vorwärts gehen kannst

und auf deine Gefühle vertrauen,

ohne Scham, voller Lebendigkeit,

denn Ich habe dich geführt!“ Amen