Das Verlorene wird gefunden

In Erinnerung an den zu früh verstorbenen Bruder

Ab und zu gehe ich mit einem Kollegen wandern. Er ist älter als ich. Einmal waren wir wieder zusammen unterwegs, es war in der Adventszeit. „Wenn ich in dieser Zeit unterwegs bin, erinnert mich das immer an das Krippenspiel, das wir als Kinder aufführten“, erzählte er. „Es gab viel zu viele Kinder und viel zu wenig Rollen.

So haben die meisten einen Hirten gespielt. Ich auch. Zuerst wollte ich zwar lieber einer der Könige sein. Aber dann hat mir das gefallen, dass da die ganze Klasse unterwegs war nach Bethlehem zu dem Stall. Niemand war ausgeschlossen, für jeden gab es eine Rolle.“

„Auch heute“, erzählte der Mann weiter, “wenn ich in dieser Jahreszeit unterwegs bin, fällt mir dieses Bild wieder ein. Und ich muss dann an all die Menschen denken, die ich gern habe: wie auch sie unterwegs sind. Es ist schön für mich, auf diese Weise an sie zu denken.

„Mein Bruder zum Beispiel“, sagte er, „er ist schon lange gestorben. Und es tut mir heute noch weh, wenn ich an ihn denke. So früh ist er krank geworden, er musste die Stelle aufgeben. Das Leben hatte doch erst begonnen, und wir erwarteten alle das Schönste von ihm. So schnell ist es abgebrochen. Ich kann nicht an ihn denken, ohne dass bittere Gefühle in mir aufsteigen.
Aber hier auf diesem Weg denke ich, dass auch er dazu gehört. Er ist einer auf diesem Weg. Die ganze Menschheit ist hier unterwegs. Auch für ihn gibt es ein Ziel und ein Ankommen auf dem Weg.“

„Oder meine Mutter“, sagte er. “Seit ich älter bin, denke ich wieder mehr an meine Kindheit und an die Familie. Sie hatte kein einfaches Leben. So viele Kinder, und dann das Geschäft! Ich frage mich manchmal, wie sie das schaffte.  Auch ich habe ihr manchmal Sorgen gemacht. – Jetzt denke ich: Sie ist mit dabei.“

Wir gingen eine Zeit lang still nebeneinander her. „Beim Wandern kann ich vieles verwerchen“, nahm er den Faden wieder auf. „Aber es gibt Dinge, die ich nicht ändern kann. Da tröstet es mich, dieses Bild vom Krippenspiel: wie die Menschen unterwegs sind zu diesem Stall. Alle kommen sie ans Ziel und gehen nicht verloren.“

„In der Adventszeit ist es etwas ganz Besonderes, draussen auf dem Weg zu sein“, meinte er. „Es ist früh dunkel. Es ist nicht die Zeit für Wanderungen. Aber es ist besonders stimmungsvoll. Man macht keine grossen Wege und schaut, dass man bald unterkommt, an einem Ort, wo es hell ist und freundlich.

Einen solchen Ort gibt es auch für mich. Das weiss ich, seit ich im Krippenspiel den Hirten gemacht habe. Einen solchen Ort gibt es für alle Menschen“, sagte der Mann. „Das macht mich froh.“

„Das Verlorene will ich suchen,
das Vertriebene zurückbringen,
das Verletzte verbinden,
das Schwache kräftigen.“ (Ez 34, 16f)