Nach der Religion?

Religion hat eine schlechte Presse. In der Philosophie ist sie schon lange verabschiedet. Das ist eigentlich erstaunlich, weil sich diese Welt rasant einem Zustand annähert, wo immer mehr Subsysteme auf einen Kollaps zuzusteuern scheinen. Wie wollen die Menschen das durchstehen, wenn alles, was bisher Halt versprach, in Bewegung gerät? Einen Gott, der ausserhalb steht und der darum Halt geben kann, «auch wenn die Welt untergeht», kennen sie nicht oder lehnen ihn ab, weil er ihnen nicht denkbar scheint.

Gott denken
Das ist auch eine Frage, die zum Thema «Hingabe» gehört: Wo ist denn das Subjekt, das die Geschichte in der Hand hielte? Wo ist die Instanz, welche die aus dem Ruder laufenden internationalen Entwicklungen steuern, wo die Grösse, die dem destabilisierten Gleichgewicht in der Natur wiederherstellen könnte?

Ein «Gott» würde diese Lücke füllen. Ein solches Konzept von Gott zu haben, ist wünschbar. – Ist es nicht auch denkbar? Die Geschichte zeigt, dass in derart verunsicherten Notsituationen Gott wieder gedacht wird. Er taucht wieder auf in der philosophischen Agenda und in der allgemeinen Kultur ohnehin, weil die Menschen etwas brauchen, das grösser ist als ihre Angst. Und wenn die Angst die ganze Welt füllt, muss es grösser sein als diese ganze Welt.

Gestern las ich im Zug in dem Buch von Karl Löwith, wo er die Geschichte der Metaphysik von Descartes bis Nietzsche nachzeichnet. Insbesondere geht er den drei Themen Gott, Mensch und Welt nach, die seit der Schul-Philosophie des 18. Jahrhunderts zur «speziellen Metaphysik» gehören. Hier möchte er den Begriff Gott ausradieren, so dass sich nur noch Welt und Mensch gegenüberstehen. Für den Gottesbegriff macht er das Christentum verantwortlich, jedenfalls für einen Gott, der Welt und Mensch gegenübersteht. Vorher kannte die Philosophie auch einen Gottesbegriff, der aber mit der Welt zusammenfiel.

Antiker Pessimismus
Mit der Loslösung fiel eine Abwertung der Welt zusammen. Er kann viele christliche Stimmen zitieren, die Askese predigen und vor der «Welt» warnen. Diese Klage, dass das Christentum die Welt schlecht mache, war vor zwanzig, dreissig Jahren allgemeines Kulturgut. Man wollte die Welt feiern und tadelte das Christentum für seine Miesmacherei. Immerhin ist Löwith so redlich, dass er den Anfang dieses Denkens in den Hellenismus setzt. In der Spätantike gab es einen Umschwung der allgemeinen Stimmungslage.

Der antike Optimismus wich einem Pessimismus, einer Weltflucht, einer Suche nach einem Heil, das nicht an der Welt hing, die immer mehr dem Untergang zuzutreiben schien. Darum nahm auch die Philosophie diese Stimmung auf, sie näherte sich der Religion an. Viele Philosophen-Schulen entstanden, die mehr und mehr religiösen Sekten gleichen, das kann man bei Jakob Burkhardt nachlesen.

«Tubelisicher»
Für das Thema Hingabe heisst das: Ich gehe aus von einem Menschen, der sein Leben führen muss und will. Er ist vielleicht nicht besonders begabt – macht nichts. Eine Antwort, die verhält und die auch andere Menschen etwas angehen soll, die muss «tubelisicher» sein. Eine Lösung, die nur für Geistesriesen einsehbar oder für finanzielle «Eliten» finanzierbar ist, interessiert nicht. So ist dieser Minderbemittelte jetzt auch in diese Welt gestellt, wo Machtblöcke sich verschieben, wo Kulturen aufeinanderprallen und ihre identitätsprägende Kraft verlieren.

Zur objektiven Gefährdung kommt das Gefühl einer allgemeinen Auflösung. Und die grossen Themen der Paläontologie – die Entstehung der Lebensräume und Arten, das Wandern der Kontinente, die Abfolge von Eiszeiten und Warmzeiten, das Artensterben – sind eigenartig näher gerückt.

Das Wandern der Kontinente
Die Kontinente spürt man zwar nicht bei ihrer Wanderbewegung, aber das Klima verändert sich rasant und mit ihm verschieben sich biologische Lebensräume, Verbreitungsgebiete und Lebensbedingungen für lokale Arten. An einem gegebenen Standort kommt es zu neuen, bisher unbekannten Krankheiten, Seuchen, aber natürlich auch zu neuen Futterangeboten. So fressen die Rentiere auf Spitzbergen neuerdings Seegras, weil die gewohnten Flechten und Mose nicht mehr zugänglich sind («Tages-Anzeiger» vom 31.7.19). Aber ob ihnen das bekommt, ist noch ungewiss. Viele sind verhungert aufgefunden worden. «In der Arktis lässt der Klimawandel die Temperaturen zwei bis dreimal schneller ansteigen als im Rest der Welt», heisst es im Bericht. Das menschgemachte Artensterben will ich nur kurz erwähnen.

Gott brauchen
Es wäre naiv, hier immer noch so tun zu wollen, als ob alles in Ordnung wäre, als ob sich nicht elementarste Grundlagen des Lebens heute vor unseren Augen veränderten, wenn nicht auflösten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Suche nach Hilfe den Anker weiter auswirft, über die Welt hinaus, dass wieder religiöse Konzepte wirksam werden, auch in Bereichen, die sich heute in ihren Inseln von Wohlstand und Unberührtheit noch sicher fühlen.

Die grosse Konkurrenz zur Religion ist das Sicherheitsdenken. Und das ist weit gefährlicher, als dass sich Menschen an eine religiöse Instanz hingeben. Die Angst will Sicherheit. Das Vertrauen, das die Religion verlangt und das nur in einem grossen, anspruchsvollen Weg gefunden wird, ist nicht gleich als Antwort auf die Angst zu begreifen. Denn um Vertrauen zu finden, muss man vor der Angst nicht fliehen, sondern in sie hineingehen. Erst auf dieser Reise ins Dunkel, ins Trauma, in den Bereich des Todes, wo alles aufgegeben (und hingegeben) werden muss, wird Vertrauen erlebt als Kraft, die Leben trägt, auf die man ein Lebenskonzept aufbauen kann. Das heisst dann Glaube, Religion.

Dynamik der Angst
Die übliche Reaktion auf Angst ist das Streben nach Sicherheit. Das verlangt Kontrolle. Und das inszeniert ein Spiel von Macht, Übergriff, Gewalt. Es kommt eine Dynamik in Gang, die sich verheddert in Drohung und Gegendrohung, Macht und Gegenmacht, Gewalt und Gegengewalt. Und sie kommt nicht zur Ruhe, bis ein Gegner am Boden liegt oder – bei dem heutigen Potential an Machtmitteln – bis die gemeinsame Lebenswelt rauchend in Trümmern liegt.

Hingabe, Glaube, Religion ist somit nicht nur eine Frage für philosophische Proseminarien, wo alten, vergangenen Konzepten eines religiösen Denkens nachgegangen wird, bevor man zum «eigentlichen» Denken in der Gegenwart übergeht. Es ist eine Frage, wie wir richtig auf die Herausforderung dieser Zeit antworten und der Welt und dem Leben eine Chance geben gegenüber den Kräften, die eine Dynamik lostreten, die alles zugrunde richten wird.

 

(Aus «Das Hingabe-Verbot», Notizen 2010.)

(Das im Text erwähnte Buch ist: Karl Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis Nietzsche, Göttingen 1967).

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