Wieder ins Reine kommen

Im Herbst beginnt die Wanderzeit. Viele zieht es in die Berge. Es ist ein schöner Moment, wenn man nach einem anstrengenden Aufstieg oben angekommen ist. Jetzt hat man es geschafft. Von jetzt an geht es nur noch geradeaus, und man geniesst den Blick, der weit in die Runde geht. Auch das Leben kennt eine solche Aufstiegszeit. Man lernt einen Beruf, geht Beziehungen ein, löst sich vom Elternhaus und stellt sich auf eigene Beine. Irgendwann hat man es „geschafft“, man weiss, wie es läuft, hat einen Weg gefunden.

Der innere Weg
Auch innerlich macht man einen Weg in diese Zeit. Die Erfahrungen in der Beziehung zeigen, wo man steht. Die Erfahrungen im Beruf konfrontieren mit den eigenen Grenzen. Auch im Innern wird viel Arbeit geleistet in den „Aufstiegsjahren“. Altes, das man hinter sich glaubte, taucht wieder auf. Frühere Erfahrungen im Leben helfen bei der Bewältigung des Neuen, sie können sich aber auch wie Fesseln um die Beine legen, wenn verletzende Erfahrungen damit verbunden sind.

Viel Versöhnungsarbeit ist zu leisten in diesen Jahren, und so reift man auch innerlich in dieser Zeit. Nach vielen Rückschlägen findet man einen Weg. Und schliesslich ist auch dieser Aufstieg geschafft, und der Blick geht weit in die Runde. Aber „immer“ gibt es nicht im menschlichen Leben. Wie das Wetter umschlägt, kann auch diese innere Ruhe verloren gehen. Ein Sturm kann aufziehen, Wolken, die den Horizont verhängen, Stürme, die einen bis in die Seele erschrecken. Und der Weg, auf dem man so sicher vorangeschritten ist – man hat ihn verloren.

Verstrickt
Nichts mehr scheint zu gelingen. Man fühlt sich verstrickt in Mechanismen, die man nicht kontrollieren kann. Und oft muss man sich selber die Schuld geben an dem, was geschehen ist. Wie gern würde man da einen neuen Anfang machen, ohne die Zentnerlast der Vorwürfe an sich selbst, ohne das bittere Gefühl, es aus eigener Schuld verdorben zu haben. Es gibt Momente, wo man nicht mehr hofft, dass es noch gut wird mit dem eigenen Leben.

Man möchte wieder ins Reine kommen. Der Wanderer, der sich verirrt hat, schaut in die Karte. Und notfalls kehrt er um und geht ein Stück zurück, bevor er es mit einem anderen Weg versucht. In der Politik sind es Wahlen, die einen Neuanfang markieren. Das Rechtsleben ist voll von Verfahren, wie Verstösse wieder gut gemacht werden können.

Aber auch mit sich selbst möchte man ins Reine kommen. Das Gewissen klagt an, auch hier erwartet man Bestrafung, und sehnt sich manchmal vielleicht sogar danach, wenn nachher nur wieder alles gut ist. Im Lauf der Geschichte haben Menschen viele Formen entwickelt, die es ihnen erlauben sollen, wieder ins Reine zu kommen. Oft sind sie verbunden mit einer Selbstminderung, einer Selbst-Bestrafung, dass man sich selbst eine Busse auferlegt. Im Mittelalter zogen Geissler-Züge durch die Städte, andere rutschten auf Knien auf einem Pilgerweg, in den Klöstern kasteite man das Fleisch, um den sündigen Leib abzutöten.

Unbegreifliche Güte
Viele Buss-Wege wurden beschritten, auch solche, die ins Abartige kippen und die nur verständlich sind aus einer zutiefst verängstigten Seele. Im Lauf der Religionsgeschichte wurden sie geläutert. Gott, so wurde begriffen, ist kein Moloch, der Kinderopfer verlangt, kein Dämon, der die Menschen quält. Er ist ein gütiger Gott. Er verachtet nichts, was er geschaffen hat, wie schon ein Text aus dem Alten Testament sagt:

„Du liebst alles, was ist. Du verabscheust nichts von dem, was Du gemacht hast; denn Du hast ja nichts bereitet, gegen das Du Hass gehabt hättest. Wie könnte etwas bleiben, wenn Du nicht wolltest? Du schonst alles; denn es gehört Dir, Herr, Du Freund des Lebens. (…) Darum bestrafst du die, die fallen, nur leicht und warnst sie, indem Du sie an ihren falschen Weg erinnerst. So kommen sie von ihrer Verdrehtheit los und lernen auf Dich vertrauen. Dein Volk aber lehrst Du auf solche Weise, dass der Gerechte menschenfreundlich sein soll. Wer sich zu Dir hinwendet, der wird errettet durch Dich, den Heiland aller Menschen. Dadurch überzeugst Du unsere Feinde, dass Du es bist, der aus allem Übel erlöst.“ (Weisheit Salomos 11, 24ff)

So kann sich der mit sich entzweite Mensch wieder versöhnen. Er muss vor Scham nicht mehr in den Boden sinken, Angst muss ihn nicht mehr lähmen, Schuld nicht mehr am Sinn des Lebens verzweifeln lassen. Er wird zu einem neuen Leben befreit, einem neuen Anfang. Und die Wege, die er jetzt sucht, sind von Versöhnung geprägt.

Frieden mit der Natur
Nur wer den „Frieden selbst im Herzen trägt“, kann nach aussen im Frieden leben, schreibt der Dichter Gottfried Keller 1863 in einer Bettags-Ansprache. Und wer Frieden in sich gefunden hat, lernt auch Wege, um versöhnt mit der Natur zu leben. Das gilt für die innere Natur, die er in sich selbst findet, in seinen Gefühlen und Regungen. Aber es gilt auch für die äussere Natur. Er muss das, was Angst macht, nicht mehr wie einen Feind bekämpfen. Denn er hat in sich Frieden gefunden mit Dem, der hinter aller Natur steht und alles in seiner Hand trägt.

An diesem Bettag erinnern viele Redner an unsere Verantwortung der Natur gegenüber. Nicht das Befeinden führt weiter, sondern das Befreunden. Im 18. Jahrhundert begann ein Zivilisations-Projekt, das sich gegen eine feindlich gedachte Natur richtete. Dieser Kampf kann nicht gewonnen werden. Darum kehrte die Romantik den Spiess um, ihr galt die Natur heilig und die Zivilisation war Ursprung aller Übel. Solcher Zivilisations-Überdruss ist auch heute zu finden. Weiter führt aber ein Wort, das noch viel älter ist.

„Kultur“ meint einen Umgang mit der Natur, in dem man „Kulturen“ anlegt. Das Wort stammt aus der Landwirtschaft, aber es erinnert auch an den Gottesdienst, der „Kult“ heisst. Es ist ein Umgang mit den Grundlagen unserer Existenz, der darum weiss, dass sie uns geschenkt sind. Sie leben in unserem Innersten, wir können uns nicht davon befreien. Sie werden aber zu einer Quelle des Lebens, wenn wir einen freundlichen Umgang damit finden.

 

Zum Dank- Buss- und Bettag, der in der Schweiz dieses Jahr am 20. September und in Deutschland am 18. November gefeiert wird.
Aus Notizen 2007
Foto von Mike Andrei von Pexels