Die Änderung der Vergangenheit

Violett und dunkel ist das Kirchenfenster. Es zeigt Bethlehem und den Weihnachtsstern. Da ist die Stadt, wo der Mensch wohnt, darüber der Himmel. Und eine Wellenlinie verbindet beide. Es ist wie beim Schöpfungsfenster. Es ist dieselbe Wellenlinie. Wieder ist es Nacht, wie damals am Anfang, als Chaos über der Welt lag. Wieder geht das Schöpfungswort hinaus: „Es werde Licht!“

Er wählt die Nacht aus, um bei uns anzukommen. So müssen wir nicht verzweifeln, wenn es einmal Nacht ist in unserm Leben. Es ist der Ort, wo Gott bei uns ankommt. Es ist der Ort, wo die Heilung anfängt.
Diese Nacht im Leben, die hier gemeint ist, ist etwas Furchtbares, es ist nichts Beschauliches. Es ist die Nacht, wo wir uns von Gott und Mensch verlassen fühlen.
Diese Nacht ist aber auch geheiligt. Es ist die Zeit, wo Gott uns am nächsten ist. Gerade das, was uns plagt, das ist der Ort, wo er sein Werk bei uns anfängt.

So ist es auch an Weihnachten. Wir sehen es auf dem Fenster. Es ist Nacht. Der Mensch lebt in Dunkelheit. Er kann seinen Zwiespalt nicht lösen. Er weiss, wie die Welt sein müsste und kann sie selbst nicht so einrichten. Ohnmächtig steht er vor Gewalt und Krieg, als ob das auf immer das Los der Menschheit wäre. – Er ist verstrickt in seine eigene Geschichte und kann den Knoten nicht lösen.

Die Hilfe kommt aus jenem Ursprung, aus dem die Welt ihren Bestand hat. Die beiden ersten Fenster haben den Knoten geschürt: die drei letzten berichten, wie er gelöst wird. Sie erzählen von Erlösung und Vollendung. Was gebunden ist, wird befreit, was sich verloren hat, ans Ziel gebracht.

Zwei Schlüssel gibt es dazu, den einen trägt Gott in der Hand, den andern hat er uns gegeben.
Der eine ist gross, er passt nur in die Hand Gottes: Das ist der Schlüssel zu Tod und Leben. Da werden die Quellen aufgeschlossen, wovon die Welt lebt. Und wo für uns Menschen alles zu Ende scheint, öffnet er neues Leben. So geschieht Erlösung aus der Schöpfungsmacht Gottes.
Der andere Schlüssel ist viel kleiner, er passt in die Hand von uns Menschen. Und eine Kopie davon ist jedem von uns in die Hand gegeben: Das ist die Versöhnung, die Sorge um Gerechtigkeit, die Vergebung.

Wenn wir etwas falsch gemacht haben, können wir es nicht ungeschehen machen. Aber wir können unsere Fehler eingestehen, sehen, dass Recht geschieht und Vergebung finden.

Wenn wir Unrecht erlebt hat, fällt es uns nicht leicht, zu vergeben. Vergebung ist ein langer Weg. Aber wo er gelingt, hat er grosse Kraft.

Eine solche Vergebung kann Feindschaft beenden und Frieden schaffen. Sie hat Macht über die Vergangenheit. Sie ändert sie, indem sie die Fehler nicht mehr aufrechnet.
Sie hat Macht über die Zukunft. Wo alles durch Schuld und Schuldgefühl verstellt schien, öffnet sie neue Wege.
Sie kann sogar Kranke gesund machen. Sie versöhnt Konflikte, macht Energie frei, die gebunden war. Sie gibt Erlaubnis zum Leben.

Recht, Gerechtigkeit und Vergebung – es ist nur ein kleiner Schlüssel, den wir haben, aber er ist eine Kopie des grossen. Er hat nicht Schöpferkraft, aber er öffnet verstellte Wege und heilt alte Wunden.

Auf dem Fenster ist Weihnachten. Gott kommt in die Welt – was ist sein Ziel? Mit seiner Geburt hat ein langer Weg bei uns angefangen – wo führt er hin?

Der Evangelist Lukas erzählt, wie Jesus, als er erwachsen war, durch Dörfer und Städte wanderte. Und als es Abend wurde und er müde war, wollte er einkehren. Und er sagte zu einem am Rande Stehenden: „Bei dir muss ich heute zu Gast sein!“ Ausgerechnet bei dem! einem Geächteten und Ausgestossenen, dem stadtbekannten Sünder! – Die Umstehenden murren. Aber er sagt: „Der Sohn des Menschen ist gekommen, nicht damit er die Welt richte, sondern um das Verlorene zu suchen und zu retten.“ (Joh 4 und Lk 19)

 

Nach einer Andacht zu den Fenstern in der Stadtkirche, 2002