Rückkehr des Pöbels?

Mit dem Begriff „Volk“ sind in Politik und Religion wichtige Veränderungen vorgegangen. Ich würde mich nie getrauen, das Wort „Pöbel“ aus den 50er Jahren wieder hervor zu nehmen. Aber da und dort finde ich es in den Medien. Es taucht wieder auf, und mit ihm eine Geringschätzung des Volkes, weil es als Masse erfahren wird, die sich manipulieren lässt und die Politik unberechenbar macht.

Mehr und mehr artikuliert sich heute Widerstand gegen einen massenhaften Konsum, der zerstört, was er gerade «entdeckt» hat. In den sozialen Medien hat die anonyme Masse eine Kultur der Blossstellung und Anpöbelei aufgebracht, die nicht nur gegen den guten Geschmack verstösst, sondern Menschen traumatisiert und ganze Lebensläufe vernichtet.

Zwei Gesichter
Im Wort „Populismus“ steckt das Wort Populus noch drin – es markiert einen Höchststand an Respekt vor dem verfassungsgebenden Souverän. Aber auch das Wort „Pöbel“ ist da zu finden, seine degenerierte Form. Es markiert eine Form von Politik, wo nicht mehr ein Volk seine Geschicke frei in die Hand nimmt, sondern wo es manipuliert und betrogen wird und die Interessen fremder Einflussgruppen besorgt.

Misstrauen gegen Volk und Volksrechte
Die Zeitung berichtet heute (2018), dass das Instrument des fakultativen Referendums in den Niederlanden wieder abgeschafft werden soll. Die Niederlande hätten schlechte Erfahrungen damit gemacht. Der „Brexit“ in Grossbritannien, das Unabhängigkeits-Votum in Katalonien und das Unabhängigkeits-Referendum der irakischen Kurden markieren weitere Fälle in dieser Zeit, wo ein Appell an das Volk Konflikte nicht gelöst, sondern geschürt haben. In den Niederlanden soll das Referendum nur drei Jahre nach seiner Einführung wieder abgeschafft werden – zu gross sei die Furcht, „populistische Kreise könnten sich noch einmal des Instrumentes bemächtigen.“ («Tages-Anzeiger» vom 24. 2. 2018)

Neue Definition, wer zum Volk gehört
Dieselbe Nummer berichtet über ein Buch von David Frum. Der ehemalige Redenschreiber von George Bush diagnostiziert eine Spielart von Populismus in den USA, die sich von den verfassungsmässigen Grundlagen entfernt. „Es gibt eine starke Bewegung von autoritären Populisten, die eine antidemokratische Agenda verfolgt.“ Man sehe das an der Entwicklung des Wahlrechts in verschiedenen Bundesstaaten. „In Texas z.B. erlauben nur sieben bestimmte Nachweise die Teilnahme an der Wahl: ein Waffenschein zum Tragen einer verdeckten Waffe gehört dazu, nicht aber ein Fotoausweis einer staatlichen Universität. Hier wird umdefiniert, was ein richtiger Bürger ist, indem viele Einwohner dieses Landes ausgeschlossen werden.“

Vom Pöbel zum Populus
Ich erinnere mich an meine Kindheit und Jugendjahre. Damals gab es einen Elitarismus, der sich verächtlich über das Volk äusserte und vom „Pöbel“ sprach. Früher waren nicht nur Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen, sondern der «gemeine Mann» überhaupt. Das Wahlrecht war an einen bestimmten Vermögensausweis gebunden („Zensus-Wahlrecht“). Preussen kannte ein Dreiklassen-Wahlrecht. „Insgesamt war die Bevorzugung der besitzenden Bürger im 19. Jahrhundert selbstverständlich und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich.“ (Wikipedia)

In den 60er und 70er Jahren kam ein neuer Respekt vor dem Volke auf. Die Zürcher Polizisten wurden als Londoner „Bobbys“ verkleidet und begegneten dem Souverän respektvoll. Er war ja ihr Arbeitgeber und oberste politische Instanz in dem Staat, dem sie dienten. Das war auch der Tenor im Militär und schlug sich in einschlägigen Reformen nieder. Wer damals Dienst leistete (in der Schweiz sind alle Männer dienstpflichtig), bekam das atmosphärisch mit.

Es war ein grosser Kontrast zur bisherigen Kultur, wo Offiziere und Soldaten sich aus Gesellschafts-Schichten rekrutierten, zwischen denen keine Durchlässigkeit bestand. Es war ein Rest von ständischer Gesellschaft, die beim getrennten Essen, bei den unterschiedlichen Menüs und bei der Kleidung sichtbar wurde. Als Unterschicht-Angehöriger und Soldat hatte man nur als „Offiziers-Putz“ Zugang zu den Offiziersunterkünften, denn selbstverständlich reinigten diese ihre Schuhe nicht selber.

«Herr Soldat»
Die Reform war verbunden mit dem Namen von Heinrich Oswald, dem Direktor der Knorr-Fabrik und des Medien-Hauses Ringier. Er erfand die Werbefigur des „Knorrli“ und machte auch die Schweizer Armee populärer. In seinem 1970 veröffentlichten „Oswald-Bericht“ empfahl er die Abschaffung der preussischen Achtungstellung (Strammstehen) und die Ausweitung der bisher ausschliesslich Offizieren zustehenden Anrede «Herr» auf alle Soldaten.

Vom Populus zum Pöbel?
Es dauerte aber nicht lang – wenn die Erinnerung nicht täuscht, war es in den 80er Jahren, als all das Abgeschaffte wieder zurückkam. Unser technischer Dienst in der Armee musste sich wieder selber verteidigen. Also begannen Drill und Nachtübungen von neuem, auch das Betonen von vertikalen Hierarchien.

Bei den Polizisten hatte das schon früher begonnen, wohl im Gefolge der 1968er Unruhen. Plötzlich hatten die „Bobbys“ ihre blauen Hüte und weissen Handschuhe eingetauscht gegen Schlagstöcke und Korbschilde. Dann kamen Wasserwerfer, Gummischrot-Gewehre und Tränengaspetarden – die Aufrüstung für den Nah- und Fernkampf. Aus Demonstrationen waren Strassenschlachten geworden.

Der Weg vom Populus zum Pöbel, vom Respekt vor dem Souverän zur Verachtung der Masse, hing aber nicht nur an den heftiger werdenden Auseinandersetzungen auf der Strasse. Es kamen politische Bewegungen und Parteien auf, die einerseits das Volk in den Himmel hoben und die Volkssouveränität zur einzigen Quelle von Recht und Wahrheit erklärten, die das Volk aber auch benutzten und manipulierten.

Rückkehr des Pöbels?
Wenn heute das Wort „Pöbel“ wieder in den Medien auftaucht, markiert das einen Vertrauensverlust. „Rückkehr des Pöbels“, das würde heissen,

  • dass man es dem Volk nicht mehr zutraut, sich von seiner populistischen Umklammerung zu lösen,
  • dass man der politischen Kultur misstraut, den zynischen Machtmissbrauch zur Durchsetzung von Sonderinteressen noch eindämmen zu können,
  • dass man der Geschichte nicht mehr zutraut, aus der Vergangenheit zu lernen und abermals die Degeneration «von der Demokratie zur Ochlokratie» abschreitet, die schon für die antike Demokratie beschrieben worden ist.

Das hiesse dann, sich auf eine neue Phase vorzubereiten und Abschied zu nehmen von bisherigen Bildern von Demokratie, Rechtsstaat und sozialem Ausgleich.

 

Aus Notizen 2018
Bild: Zwei Gesichter, Ausstellung Kunst der Aussenseiter, Kunstmuseum Thurgau