Sollen wir Verantwortung übernehmen für das Ganze?

Der Muttertag erinnert uns, wie sehr die Gesellschaft sich verändert hat. Die Wirtschaft braucht Arbeitskräfte und sie hat die Frauen in den Arbeitsprozess eingegliedert. Viele Frauen haben das als Befreiung erlebt aus den Zwängen der alten Rollenbilder. Dafür sind sie jetzt den Zwängen des Arbeitsmarktes unterworfen. Das spüren wir besonders in dieser Zeit, wo die Wirtschaft stagniert oder rückwärts geht und wo es zu Entlassungen kommt. Der Muttertag lädt uns darum auch ein, genauer hinzusehen auf die Gesellschaft und ihre Veränderungen. Was hieße das, eine mütterliche oder väterliche Verantwortung wahrnehmen in dieser Zeit?

Die Welt verändert sich. Das sieht man auch am Muttertag. Wenn Sie ihre Mutter oder Schwiegermutter besuchen wollen, dann müssen Sie meist das Auto hervorholen. Sie wohnt nicht mehr im selben Haus oder in derselben Stadt. Die Welt ist weitläufig und mobil geworden. Die Kinder sind weit weg, die Verwandtschaft ist zerstreut. Die Hälfte der Haushalte in unseren Städten sind von Singles bewohnt.

Alles ist „flüssig“ geworden
Es ist anonym geworden. In der Nachbarschaft wohnen fremde Leute. Tags sind sie weg an der Arbeit. Und bevor man sie richtig kennenlernt, sind sie wieder weggezogen an einen anderen Arbeitsort. Alles ist „flüssig“ geworden. Die menschlichen Lebensformen von Familie, Verwandtschaft und Dorf haben sich aufgelöst. Alles bewegt sich, wie der Markt es will. Auch die Arbeitskräfte folgen dem Markt, die traditionellen Bindungen lösen sich auf.

Der Mensch erlebt sich zunehmend als ein Einzelner. Sein Gegenüber ist nicht mehr das Kollektiv. Sein Gegenüber ist der Markt, eine globale Gesellschaft, wo die kleinen Lebensformen zunehmend aufgelöst werden. Wie soll man in einer solchen Welt seine Verantwortung wahrnehmen? Wie soll man einer solchen Welt Wärme geben? Wie soll man da Geborgenheit erleben? Die Welt ist „anonym“ geworden: ohne Namen. Wer heute vor die Haustür geht, begegnet vielen fremden Gesichtern. Wir haben gelernt, uns um den Nächsten zu kümmern. Aber wo ist der „Nächste“?

Die Nachrichten bombardieren uns jeden Tag mit Meldungen. „Da müsste man helfen!“, denken wir, „hier ist Not am Mann!“ Gleichzeitig ist es weit in die Ferne gerückt. Man weiss nicht wo anfangen. Und je dringender die Nachrichten werden von der Not in aller Welt, desto hilfloser fühlen wir uns.

Heil betrifft das Ganze
In der Bibel finden wir eine ähnliche Entwicklung. In der alten Zeit, wie sie uns im Alten Testament begegnet, lebten die Menschen in Familien und Stämmen. Später schlossen sie sich zu einem Königreich zusammen. Immer waren die Menschen bezogen auf ein Kollektiv. Hungersnot, Einfall fremder Völker – es betraf das ganze Volk. Darum denkt die Bibel das Heil auch nicht vom einzelnen her, sondern vom Kollektiv. Das ganze Volk wird befreit aus der Sklaverei in Ägypten. Alle sind auf dem Weg ins Gelobte Land.

Das ist eine gute Erinnerung für uns, weil wir das Seelenheil oft individuell sehen. Wir abstrahieren vom andern. Er ist ohnehin weit entfernt. Dass wir eine „Schicksals-Gemeinschaft“ bilden, ist vergessen gegangen. Die ökologischen Probleme erinnern uns wieder daran, die Klimaerwärmung betrifft den ganzen Globus. Das Ganze geht uns etwas an. Aber es ist so weit weg. Wie sollen wir Verantwortung übernehmen für das Ganze?

Ein Reich, politisch gedacht
Die Bibel gibt uns einen Hinweis. Auch die antike Gesellschaft kannte eine Art von Globalisierung. Auch damals schloss sich die Welt wirtschaftlich und politisch zusammen. Es entstanden Grossreiche, die die ganze bekannte Welt umfassten. Am Schluss ging alles auf im Römischen Weltreich. Der einzelne war herausgelöst aus seiner Familie, aus dem Land seiner Herkunft. Das Ganze war symbolisiert im Römischen Kaiser und in seinem Reich. So verwundert es nicht, dass auch das religiöse Denken diese Bilder aufnahm. Statt vom Volk sprach man vom Reich Gottes.

Es war eine Situation wie heute. Augustinus, der spätere Kirchenvater, zog sich damals aus der Welt zurück, er lebte in klösterlicher Abgeschiedenheit. Über Gott und die Seele wollte er nachdenken. „Gott und die Seele begehre ich zu kennen“, so schreibt er in seinen „Selbstgesprächen“. „Sonst nichts mehr? Schlechterdings nichts.“ Später kam er aus dem Kloster wieder hervor, er engagierte sich tätig in der Welt. Der Glaube kann sich nicht beruhigen beim einzelnen, er braucht den Nächsten, so wie wir ihn täglich brauchen, damit wir leben können.

Ein Reich, symbolisch gedacht
Das Bild, das hier weiterhilft, ist das Reich Gottes. Alle leben wir in seinem Reich. Er symbolisiert das Ganze. Bei ihm ruht unsere Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit. Er nimmt uns in Dienst für sein Werk. Bei ihm finden wir Zugang zum Innersten dieser Welt. Im Gebet ist er für uns erreichbar. Inmitten der Anonymität der globalen Welt ist er unser Gegenüber. Die ganze Welt, alle Wirklichkeit, ist zusammengefasst in diesem „Du“, mit dem wir in Gespräch sind, jeden Tag, wenn wir beten. Er hört, was uns bewegt, er ist empfänglich für unsere Bitten. Er gibt Antwort. Ihm können wir Danke sagen.

„Gott und die Seele“, so könnte man das zusammenfassen. Aber es ist nicht alles. Dazwischen ist ein ganzes Netzwerk von Beziehungen, in denen wir leben. Da sind die Nachbarn, die nebenan wohnen. Sie sind es nur auf Zeit. Bald ziehen sie weg und es kommen andere. Da sind die Kollegen am Arbeitsplatz. Auch sie sind es nur auf Zeit. Die Familie, in der wir aufgewachsen sind, ist zerstreut. Die Gemeinschaften, von denen wir herkommen, geben oft keinen Halt mehr.

Netzwerke auf Zeit
Aber es entstehen neue Netzwerke. Menschen, mit denen wir eine Überzeugung teilen, schliessen sich zusammen. Manchmal reicht ein Gruss am Morgen über die Strasse hinweg. Es ist ein Stück Beziehung. Es widersteht der Anonymität. Aus einem zweiten Gruss entsteht schon eine Art Bekanntschaft. Immer wieder entstehen neue Beziehungen von unten her.

Ein Bild für solch ein Netzwerk ist auch die Kirche. In ihr wird die Gemeinschaft sichtbar, die auf Gott vertraut. In ihr wird der Glaube gefeiert, das Vertrauen in Gott, der Recht schafft und den Schwachen schützt. In ihr lassen sich die Menschen in Dienst nehmen. Sie tun es freiwillig. Sie unterwerfen sich keinem fremden Recht, sie tun nur das, was sie selber in ihrem Gewissen als richtig erkannt haben. Und das ist ihre Befriedigung, dass sie tun, was sie erkannt haben. Christus erzählt ein Gleichnis, das uns hilft, wenn wir uns fragen: wie wir wieder lernen können, die Verantwortung für das Ganze wahrzunehmen.

Verantwortung für das Ganze?
Das Reich Gottes, das ist wie ein Hausherr, der weggegangen ist. Er überträgt die Verantwortung seinen Knechten, die während seiner Abwesenheit über das Haus wachen. Und er gibt jedem ein Talent Silber. Damals ist das „Talent“ eine Gewichtseinheit. Im Gleichnis bezeichnet es all das, was Gott uns gibt, damit wir unser Leben bewältigen können. Dazu gehört auch die Verantwortung für das Ganze, denn er hat uns als Haushalter eingesetzt. Und wenn er wiederkommt, verlangt er Rechenschaft.

So entsteht die Kirche. Und sie wird stark, wo sie das wahrnimmt, die Verantwortung die wir füreinander haben. So entsteht ein neues Netzwerk. Ältere Menschen, deren Kinder weit weg wohnen, rufen sich gegenseitig an und vergewissern sich, wie es geht. Nachbarn helfen sich aus. Die „Nächsten“ sind da. Es braucht nur, dass auch wir „da“ sind, dass wir uns Zeit nehmen, dass wir uns nicht entziehen.

Das können wir nur, wenn wir uns selber für geborgen halten. Wenn wir zur Ruhe kommen, nicht immer etwas nachrennen müssen, was uns angeblich Sicherheit verspricht. „Da sein“ können wir im Glauben. Im Vertrauen auf den Gott, der „da“ ist. Bei ihm können wir uns immer wieder „in die Mitte stellen“, zur Ruhe kommen, Anteil haben. Das ist der Rat der Bibel, wie wir heute Verantwortung wahrnehmen können.

 

Aus Notizen 2009
Zum Muttertag
Foto von Tatiana Syrikova, Pexels