Ein Land erschafft sich neu

Er ist ein ausgezeichneter Handwerker. Nach Lehr- und Wanderjahren, die ihn durch die ganze Welt führten, stand er einem Betrieb vor, der als „gute Adresse“ in seinem Beruf galt. Vor einigen Jahren hat er sich vorzeitig pensionieren lassen, aber er wird nicht glücklich mit seiner Situation. Es ist nicht die Gesundheit, die ihn plagt, obwohl das Alter sich da und dort mit Gebresten bemerkbar macht. Er muss sich auch wirtschaftlich keine Sorge machen, und seine Kinder haben ihren Weg gefunden. Es ist etwas anderes.

Das Handwerk verschwindet
Das Handwerk zerfällt und er kann nicht dabei zusehen. Sein ehemaliger Patron hat das Geschäft verkauft, eine anonyme ausländische Kette hat es übernommen. Die neuen Inhaber verstehen nichts vom Handwerk, fühlen sich ihm gegenüber auch nicht verpflichtet. Die Freude an der Berufsarbeit und an einem schön verarbeiteten Stück tritt zurück hinter der Orientierung an den Absatz-Zahlen. Um billiger produzieren zu können, wurde die Qualität herabgesetzt.

Der alte Handwerksmeister fühlte sich in seinem Berufsstolz verletzt, für sein Empfinden hätte er Tradition und Herkommen verraten müssen. So hat er sich lieber früh-pensionieren lassen als so weiter zu arbeiten. Auch die anderen langjährigen Angestellten sind verschwunden. Aus dem Beruf ist ein Job geworden. Der Betrieb ist nicht mehr am Ort verwurzelt, die Verwaltung liegt irgendwo im Ausland am Sitz der neuen Eigentümer-Gesellschaft.

Die Schweiz der Kaufleute
Diese Geschichte ist nichts Aussergewöhnliches. Sie wiederholt sich so oder ähnlich jeden Tag. Dass das Handwerk verdrängt wird, daran haben wir uns über eine lange Zeit gewöhnen können. Aber jetzt verschwindet auch noch der Bauernstand. Oder wie soll man das nennen, wenn innerhalb von 25 Jahren 130.000 Betriebe verschwinden und nur noch 3 % der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig sind? Selbst die Industrie verlagert sich ins Ausland, Fachleute reden von einer „De-Industrialisierung“.

Die „Kaufleute“, die in der alten Schweiz neben Bauern und Handwerkern eine kleine Gruppe waren, bestimmen immer mehr das Gesicht der Schweiz. Die Bedingungen ihres Gewerbes, Freihandel und Liberalisierung, bestimmen das Geschehen. „Das ist halt der Wandel“, kann man sagen. Aber es lohnt sich doch, einmal Halt zu machen und hinzusehen, was da geschieht. Die alte Schweiz verschwindet, eine neue kommt herauf.

Protest und Gegenbewegung
Das betrifft nicht nur die Wirtschaft. Mit den Berufen verändern sich auch unsere Erfahrungswelt und die Art, wie wir zusammenleben. Die ganze Kultur wird in den Sog der Veränderung gezogen bis hin zur Religion. Die Schweiz macht eine fundamentale Veränderung durch. Viele Ältere tun sich schwer mit dem Verschwinden ihrer vertrauten Welt, Jüngere freuen sich auf die Chancen des Neuen. Aber auch sie sind teilweise verunsichert. Es fällt ihnen nicht leicht, im raschen Wandel feste Orientierung zu finden. So weckt der Wandel auch Gegenbewegungen. Und ab und zu entlädt sich der Zorn gewalttätig an Symbolen der Veränderung.

Was geht das die Kirche an?
Ein grosses Thema für einen Gottesdienst. Und doch beschäftigt es viele Menschen, die ihre vertraute Welt verschwinden sehen. Die Kirche hält immer wieder Nachrufe auf verstorbene Menschen und erinnert sich an ihr Leben. Wenn ein ganzer Berufsstand „stirbt“, betrifft es viele Schicksale. Auch da gibt es viel Schönes, an das mit Dankbarkeit gedacht werden kann. Auch hier ereignet sich viel Schmerzhaftes, und es entsteht die Frage nach Schutz und Beistand. Auch hier gibt es eine Zukunft, die nur in Hoffnung und Zuversicht bewältigt werden kann.

 

Aus der Ausschreibung zu einem Gottesdienst 2002
Foto von Tran von Pexels