Die Rückkehr der Religion von den Rändern her

Man kann die Religion aufsuchen bei den Glücksmomenten, die sie begleitet: wenn ein Kind geboren wird, wenn zwei heiraten… In den Texten des Büchleins, das hier angezeigt wird, scheint die Religion etwas Dunkles, jedenfalls verbunden mit Dunklem. Das ist heute nicht verwunderlich, wo Religion fast nur noch in Zusammenhang mit kirchlichen Fehlleistungen thematisiert wird. Und doch ist hier etwas anderes gemeint.

Es geht um Leid, um Verletzungen, ja auch durch die Kirche, aber noch mehr um die grossen Umwälzungen, um Kriege und Krisen, wo Menschen traumatisiert werden. In der Art, wie Traumata erlebt und ausgedrückt werden (angefangen bei der frühkirchlichen Passions-Geschichte von Verfolgung und Kreuzigung) finden sich religiöse Bilder. Sie helfen, der Verletzung Ausdruck zu geben, und sie begleiten auf einem Weg der Heilung.

Glaube wird hier nicht begriffen als System von Sätzen, sondern als Haltung des Vertrauens, das elementar nötig ist, um das Leben als einzelner oder als Gemeinschaft zu führen. Wird das Vertrauen verletzt, hindert das die Integration der Menschen in sich selbst und in die Gemeinschaft. Der Weg zur Heilung muss die Verletzung aufsuchen. So ist der religiöse Weg, wie er hier beschrieben wird, ein Weg ins Dunkle. Ein Bild dafür gibt der Weg von Jona, der sich einschifft, in einen Sturm gerät, über Bord geht und von einem Wal verschluckt wird.

Jona
Die biblischen Weisen haben versucht, die Welt, was sie verstört und was sie heilt, zu verstehen. Sie erzählen eine Geschichte nach Art der Propheten-Geschichten, die die Katstrophe des Exils begleitet haben. Sie lassen den Propheten Jona durch die Welt gehen, wie später Voltaire seinen Candide, der unschuldig all den Gräueln ausgesetzt wird – von Inquisition, Krieg und Sklaverei bis zum Erdbeben von Lissabon. Voltaire erzählt seine Geschichte ohne absoluten Rahmen, wo es Versöhnung und Vergebung gäbe. Die biblischen Autoren rechnen mit Gott, so dass Leid, Unrecht und Unzulänglichkeit eine Antwort finden.

Doch Gott muss erst gefunden werden. Das ist ein langer Weg. Und der wird beschrieben in der Reise des Propheten Jona, der über Bord geht und von einem Wal verschluckt wird.

Das Jona-Buch erzählt nicht alle möglichen Unglücksfälle, sie werden angetönt, der Leser kennt sie aus der Bibel. Das Jona-Buch erzählt darum elliptisch, symbolisch. Das, was menschliches Leid letztlich aufhebt, ist die Hingabe an Gott. Diese muss erst gefunden und für sich errungen werden. Dazu muss man das Leid aufsuchen, wo es sich in seinem Leben abgespeichert hat. Bis in die gewohnten Weisen, etwas wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

Die Wende
Dieser Weg, so wird aus den Texten deutlich, ist so fundamental, dass er einer neuen Geburt gleicht, dem Erwerb neuer «emotionaler Aprioris», wie es ein Text theoretisch formuliert. Das wird in der Kirche im Ritus der Taufe gefeiert. Die Jona-Geschichte erzählt es als Wende: in der grössten Not wendet sich Jonas in einem Gebet an Gott. Er richtet sich an Gott aus, er entwickelt eine neue Sicht auf sich, die Wirklichkeit und das Leben. So kommt Jona, anders als Candide, zu einer religiösen Sicht. Er erneuert Glauben und Vertrauen.

Für mein letztes Büchlein wollte ich 20 Texte auswählen, es sind 40 geworden, weil ich diesen Weg deutlich machen wollte, den Weg des Jonas. Die Texte reden nicht von Meer, aber von Krise, nicht von Ertrinken, aber vom japanischen KKW-Unglück, nicht vom Sturm, aber von Klimakrise. Das meint auch die biblische Erzählung von Jonas, sie ist nicht einfach mythologisch, sie meint reale Probleme. Die Mythologie wird aber zitiert, weil sie starke Bilder zur Verfügung stellt.

Drama, Trauma und Traum
Die Reise des Jona im Bauch des Wals bis zum Grund des Meeres geht durch die Krisen der Historie, durch das Trauma der Menschen, die verletzt werden, und dabei helfen die Bilder der Mythen und des Glaubens. Drama, Trauma und Traum der Religion gehören zusammen. Das wollte ich mit diesem Büchlein zeigen. Es konfrontiert mit einem Bild von Glauben und Religion, das weit von den öffentlichen Bildern entfernt ist. Wer einen Weg der Gefährdung gegangen ist, der kennt Religion und Glaube von dieser Seite. Und er lässt sich nicht leicht vom Spott und Hohn der Kritiker irremachen.

Das Wiederauftauchen der Religion
Die Texte zeigen das Wiederauftauchen der Religion im Leben eines Menschen, der damit abgeschlossen hatte. Die Geschichte von Jona zeigt den «Übergang» zu einer Glaubenshaltung in einer Symbolgeschichte. Es findet sich im Leben vieler Menschen. So ist es nicht nur eine biographische Geschichte, sie steht für das Wiederauftauchen der Religion in einer Kultur, die damit abgeschlossen hatte. Sie taucht nicht im Zentrum wieder auf, sie kommt von den Rändern her.

 

Aus dem Vorwort. Das Büchlein ist im Buchhandel erhältlich: Peter Winiger. Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste. Edition winterwork, ISBN 978-3-96014-867-8.

Foto von Boris Ulzibat von Pexels