Die Frage nach dem „richtigen Leben“

Gesundheit oder Krankheit – junge Menschen kümmert das wenig. Gesundheit erleben sie als etwas Selbstverständliches. Sie essen, was ihnen schmeckt und nicht, was als „gesund“ gilt. Ihr Körper scheint unverwüstlich. Sie können sich ganze Nächte um die Ohren schlagen – am nächsten Morgen stehen sie wieder am Arbeitsplatz.

In der Lebensmitte ändert sich das. Die Frauen achten in der Schwangerschaft auf die Ernährung. Sie schränken sich mit Rauchen und Trinken ein. Sie unterstützen ihren Körper vor und nach der Geburt durch gymnastische Übungen bei der Bewältigung dieser grossen Umstellungen.

Es hat Folgen, was man tut
Wer in seiner Lebensweise über die Stränge schlägt, steckt es später nicht mehr so leicht weg wie früher. Jetzt spürt man die durchwachte Nacht. Der Beruf fordert einen intensiver. Für viele ist „Joggen“ oder eine andere Sportart ein Weg, um Stress abzubauen und sich für eine Herausforderung „fit“ zu halten.

In der Lebensmitte wird einem bewusst, dass Lebensgewohnheiten Folgen haben. Wer sich im Büro immer mit Kaffee aufputscht, stellt vielleicht auf Tee um oder isst seinen täglichen Apfel. Wer in die Ferien fährt, kommt jetzt öfters mit guten Vorsätzen zurück, was er alles an seiner Lebensweise ändern will. So entsteht aus Erfahrungen und Überlegungen nach und nach so etwas wie eine bewusste Lebensführung.

Die Frage nach dem „richtigen Leben“
Es gibt gesündere und weniger gesunde Arten der Lebensführung. Eine Krankheit beginnt nicht erst mit dem Symptom, sie hat oft eine Vorgeschichte. In welcher Umwelt lebt ein Mensch? Welche Werte gelten in seiner Kultur? Unter welchen Bedingungen arbeitet er? Die Haltung, die er einnimmt, das Verhalten, das er sich angewöhnt, das verdichtet sich zu einem «Charakter», das beeinflusst seinen Weg, das zeichnet sich ab in seinem Lebens-Schicksal. In der Antike war das die Frage nach der sog. Diätetik, der richtigen Haltung und Lebensführung. Ziel war ein gesundes Leben im umfassenden Sinn.

Das Interesse daran ist heute neu erwacht. Es gibt eine ganze Flut von Gesundheits-Ratgebern, die alles behandeln, von der richtigen Ernährung bis zum gesunden Bauen, vom Morgenturnen bis zum chinesischen QiGong. Und darum herum ordnet sich ein riesiger Markt von Fitness- und Wellness-Angeboten. Der Markt um Gesundheit und Krankheit ist heute zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden.

Auch die westliche Medizin kennt – trotz der schlechten Presse, die sie oft hat – dieses Interesse am richtigen und gesunden Leben. Ist jemand bereits krank, so wird er wohl mit „Medikamenten oder Apparaten“ konfrontiert. Aber neben dieser sog. kurativen gibt es auch die präventive Medizin, wo es um Vorbeugung geht. Dieser Teil wird oft weniger mit dem Gesundheitswesen verbunden, weil Vorbeugung nicht an Ärzte oder Spitäler delegiert werden kann, hier ist die Verantwortung des Einzelnen gefragt.

Daneben braucht es die Vorsorge für die Gesundheit am Arbeitsplatz oder die politische Sorge um die Erhaltung der Umwelt. Schliesslich erinnern uns die „Zivilisations-Krankheiten“ daran, dass auch das kulturelle Umfeld einer Gesellschaft das Leben und die Gesundheit der Menschen wesentlich mitbestimmt.

Krankheit als Weg
„Krankheit als Weg“ – das ist der Titel eines Bestsellers, der vielen Menschen bewusst gemacht hat, dass eine Krankheit oft der Ausdruck einer tiefer sitzenden Lebenshaltung ist. Daher ist Krankheit nicht einfach nur ein „Störfall“, der die Funktionstüchtigkeit am Arbeitsplatz beeinträchtigt und die eigenen Lebenspläne durchkreuzt. Sie kann auch eine Hilfe sein auf dem Lebensweg. Sie zwingt zum Hinsehen, sie verlangt eine Antwort. Sie kann selber Teil eines umfassenden Gesundungs-Prozesses sein, so paradox sich das anhört. Aber nicht nur Krankheit ist ein Weg. Wenn heute so viele Menschen nach dem richtigen und gesunden Leben fragen, so könnte man das in den Titel „Gesundheit als Weg“ zusammenfassen.

Gesundheit als Weg
Und das ist auch eine religiöse Frage. Die Religionen fragen seit ihrem Ursprung nach dem Weg, auf dem das Leben gelingen kann. Die ersten Christen nannten sich nicht „Christen“, sie sahen sich als Menschen, „die dem Weg folgen“. Der „Weg“ ist auch ein Zentralbegriff im Buddhismus und in vielen andern Religionen. Auch wenn sich die Religionen in der Lehre unterscheiden, gemeinsam haben sie das Anliegen, ihre Antworten nach den Anforderungen der Lebenspraxis darzustellen. Und „der Weg“ ist ein Bild, in dem das Wissen einer Religion alltagspraktisch dargeboten werden kann.

Für unsere Erfahrung ordnet sich das Leben entlang eines Weges. „Er-fahren“ heisst ja, sich auf einem Weg bewegen. Dieser Lebensweg bringt uns viel Schönes, was unsere Dankbarkeit weckt. Aber es müssen auch immer wieder Entscheidungen gefällt werden. Wie bei einer Wanderung brauchen wir Orientierung, Erholungs-Pausen und Unterstützung. In ihrer Religion, in ihrem Glauben gibt eine Kultur ihre Erfahrungen und ihre Antworten an die nächste Generation weiter. Es ist ein Schatz von Lebensweisheit, wirkliches „savoir vivre“.

Interesse am Weg des Glaubens
Dass sich heute auch die Wissenschaft dafür interessiert, das zeigen mehrere wissenschaftliche Tagungen dieses Jahres. Die früher praktizierte Abgrenzung von Medizin oder Psychologie gegenüber der Religion hat einem neuen Interesse Platz gemacht. „Heilung“ und „Heil“ liegen nahe beieinander. Der Seelsorger tritt nicht erst dann ans Krankenbett, wenn der Mediziner nichts mehr tun kann. Glaube hilft schon vorher. Nicht nur die Krankheit ist ein Weg, man muss nicht warten, bis sich ein Problem körperlich Ausdruck verschafft und sich als Krankheit bemerkbar macht. Auch Gesundheit ist ein Weg. Auf diesem Weg will der Glaube Antwort geben.

 

Aus Notizen 2001
Foto von Hakeem James Hausley von Pexels