Wenn die Sprache die Wörter auszieht

Erlebnisse in Militärdienst und brutale Zeitungsmeldungen verdichten sich zum Gefühl einer kulturellen Wende. Im In- und Ausland spricht sich die Interessenpolitik immer deutlicher aus. Hohn und Spott halten Einzug in die Politik. Der Mantel von Demokratie und Rechtsstaat wird auch mal fallen gelassen, wenn direkte Machtausübung schneller zum Ziel führt. Für mich ist es wie Schock. Es stellt sich die Frage, wer „Wirklichkeit“ besser wahrnehme. Glaube ist auch ein Streit um die Wirklichkeit.

Erlebnisse im Militärdienst
Ich möchte Erlebnisse aus dem Militär aufarbeiten. Sie wirken in dieselbe Richtung wie jene Pressemeldungen, die mich so lang beschäftigten: Chilenischen „Ordnungskräfte“, die Jugendliche anzünden, Pariser Polizisten, die Verkehrssünder neiderschiessen. Ich erschrecke: Habe ich mich mein ganzes Leben lang über die Welt geirrt?

Die Ereignisse selbst sind vielleicht nicht brutaler als andere, die mich nicht so verstört haben. Mein Weltverarbeiten hat sich verändert. Jetzt nehme ich es wahr. Früher habe ich Konflikte vermieden und lieber Ansprüche geopfert. Jetzt halte ich an einem vollen und ganzen Leben fest. Ich möchte glauben und Verantwortung wahrnehmen. Dann müsste ich aber auch Konflikte wagen. Dann bestätigen sich meine Auffassungen über die Welt und meine Stellung darin. Und ich kann auch in Zukunft auf diese Intuitionen vertrauen, mich darauf stützen.

Ein Lebensmodell
Bisher war mein Vertrauen zu klein, ich zweifelte, ob die Welt vielleicht nicht doch von einem bösen Dämon geleitet sein könnte und dass jenseits der menschlichen Machbarkeit vielleicht doch nur ein Nichts und nicht ein Gott hause.

Ich wich vor der Aufgabe zurück. Meine Autonomie war zu klein, und ich wusste es, so dass ich mich nie an solche Aufgaben heranwagte. So sehr schien ich mein Leben nicht in der Hand zu halten, als dass ich mich hätte daran wagen können. Zu oft hatte ich meine Grenzen bei weit kleineren Anforderungen erlebt und war gedemütigt worden.

So war ich gebrochen und konnte schliesslich auch unverzichtbare Lebensziele nicht mehr ins Auge fassen. Aber eben das hat eine Grenze, das Leben schreitet fort, stellt laufend neue Aufgaben. Es will und muss gelebt werden und kann nicht auf seine ursprünglichsten Ausrüstungen verzichten. So hat sich das alte Lebensmodell erschöpft, das auf Verdrängung beruhte und auf Gebrochenheit – darauf, dass ich lieber mich selber brach und verleugnete und lieber mit mir selbst im Konflikt lag (gespalten und gelähmt), als dass ich mich einem äusseren Konflikt aussetzte. Jetzt aber will ich „ganz“ sein, alles an mir strebt zur Ganzheit, so muss ich mich wohl oder übel den äusseren Konflikten aussetzen.

Wer ist eine Insel?
Erklärt das auch die Erlebnisse im Militärdienst? Hat sich auch hier nur meine Wahrnehmung verändert? Letztes Jahr dachte ich, ich hätte die Herausforderung bewältigt, indem ich den Wiederholungskurs als „Insel im Zivilleben“ betrachtete. Und auf längere Sicht wäre ja doch ich im Recht, weil nach dem «Dienst» alle zu den Regeln des Zivillebens zurückkehren. Genau das wurde mir dieses Jahr zweifelhaft: Wer mit seiner Auffassung recht behält und welches Leben eine „Insel“ im andern darstellt: die Militärwelt in der Zivilwelt oder umgekehrt.

Wer hat Recht: Das Vertrauen in eine Welt, in der Unrecht behoben werden kann, oder das Ausspielen der blanken Macht und eine Willkür, der alle Schwächeren zum Ergötzen freigegeben sind? Hier beanspruchen die Stärkeren als solche Verehrung und die Schwächeren haben als solche das Recht verwirkt.

Was ist Wahrheit?
Im Christentum wird diese Frage in der Passion verhandelt. „Was ist Wahrheit?“ fragt Pilatus. Unter dem Kreuz streiten auch zwei Weltauffassungen. Und die römischen Soldaten, die eben noch auf diesen Messias gehofft hatten, dass er die Verhältnisse verändern könnte, sehen, dass er den Kürzeren zieht und laufen auf die andere Seite über. Jetzt lästern sie über ihn und verhöhnen ihn, mit der Verzweiflung derer, die um ihre eigenen Lebenshoffnungen betrogen wurden. Die Kreuzigungs-Szene stellt nicht nur einen Machtkampf dar, sondern auch einen Kampf um die zutreffende Weltbeschreibung. (Es ist der «Pilatus-Moment», so könnte man es nennen. Er stellt sich immer wieder ein in der Geschichte.)

Unterscheiden in der Dämmerung
Und was die Nachricht aus Chile betrifft: Es war nicht die Angst eines Gläubigen vor der Nachfolge, was mich erschreckte und lähmte. (Ich dachte, wenn ich den Glauben ernst nähme, müsse ich mich dem auch aussetzen und das Leiden teilen.) Es war die Lähmung, die aus der Wiederbelebung einer traumatischen Situation fliesst. Ich selber muss unter dem Kreuz die Klärung durchmachen: Was ist die wirkliche Not, und was ist das Trauma aus der Kindheit? Durch welche Angst muss ich hindurch, um die Kindheits-Blockaden zu durchbrechen, damit ich überhaupt erst zum Glauben komme? Dann wird die Herausforderung eine neue Form annehmen. Ich werde sie angehen im Glauben und im Vertrauen auf Gottes Da-Sein an meiner Seite. Statt dass ich unbewusst einen Dämon hinter aller Wirklichkeit am Werk sehe.

Die „Ontologie“ der Spötter
Die Glaubensfrage ist in meinem Leben wieder aufgetaucht, als ich nicht mehr wusste, ob ich gläubig sei oder nicht. Ich hielt mich für ungläubig und ertappte mich beim Gebet. Diese Unsicherheit wiederholt sich jetzt gegenüber der Wirklichkeit. Ist sie so, wie der Glaube sie mir schildert? Oder haben die Spötter Recht, die höhnisch über die Schwächeren herziehen?

Jetzt stiess ich im Militär auf ein Auftreten, das in sich eine Seins-Aussage und eine Weltauslegung enthielt, die mit der Tendenz der allgemeinen Kultur allzu gut übereinstimmt: nicht, dass der Wiederholungskurs eine Insel im Zivilleben sei, sondern umgekehrt, das Zivilleben nur eine Maskerade, die aus Gutmütigkeit und um Kosten zu sparen da und dort noch aufrechterhalten wird.

Demaskierung
Sollte die Maske aber herabgezogen werden, so würde es nichts ausmachen, unverhüllt zur Herrschaft überzugehen und alles Gerede von Demokratie und Rechtsstaat und Menschenrechten und Recht auf Richter und Verteidiger und „zweiter Instanz“ etc. fahren zu lassen. Dann könnten endlich die Stiefel wieder poltern im Morgengrauen, die Verdächtigen würden abgeholt. Dann würden sie wieder verschwinden, in den Kellern der Folter- und Verhör-Lokale. Dann würden sich die Falltüren der Flugzeuge wieder öffnen über dem Meer und weiteres namenloses Menschenmaterial abwerfen.

Neurotische Weltsicht, verkleidet als „Realismus“
Aber die Mütter der Plaza de Mayo haben das Leben anders erfahren. Sie fordern nicht nur ihre Söhne zurück, sie klagen auch ihre andere Welterfahrung ein: Die Welt ist nicht so, wie diese neurotisierten und psychotisierten Kleinbürger meinen, die in Lederstiefel schlüpfen, ihre Seelennot und Sexualangst mit dem eisernen Gang der Weltgeschichte verwechseln und sich als Vollstrecker der Geschichte fühlen, wenn sie ihrem Nachbarn, der sie schon immer geärgert hat, weil sie sich von ihm verachtet glaubten, den Hals abschneiden.

Eine Religion der Angst
Es zeigt sich das„emotionale Apriori“ der ganzen Konstruktion: jene neurotische Weltauffassung eines in der Kindheit traumatisierten Charakters, der in Feindbildern und in reaktiven Angst-Abwehr-Mechanismen „Sicherheit“ sucht und der in der scheinbar analogen Welt der Sicherheitspolitik und der internationalen Beziehungen einen Schlupfwinkel findet, welcher die neurotische Weltsicht bestätigt, als gäbe es keine andere. Das ist der Geburtsort dieser Ontologie und ihres Wahrheits-Bewusstseins, ihres Evidenz-Erlebnisses:

Traumatisierte Charaktere gibt es immer, aber in einer Zeit der sicherheitspolitischen Hochrüstung, der massenhaften Verdächtigung und misstrauischen Bespitzelung der eigenen Bürger gewinnt solche Welt-Erfahrung eine massenhafte Evidenz. In der scheinbaren Analogie des Sicherheitsdenkens, wo die Staatsräson über alle anderen Werte hinwegschreitet, erlebt der Neurotiker das Wahrheits-Erlebnis, wo sich scheinbar enthüllt, was er von der Welt immer schon vermutet hat: die Welt ist auf Feindschaft aufgebaut, jeder ist der Feind des andern, niemand darf dem andern trauen, niemand darf sich eine Blösse geben. Jeder muss die Fäden direkt in der Hand behalten, sonst kann er sich nie sicher fühlen.

Mit Glauben verträgt sich ein solches Welt-Erleben nicht. Vertrauen hat hier einen schweren Stand. Wer wird sein Leben auf eine solch schwache Basis abstellen? Dieses Welt-Erfahren betreibt Religionskritik auf der Basis der Angst. Diese sucht Sicherheit, nicht Vertrauen. Man will das Weltverhältnis einseitig kontrollieren, Vertrauen ist ein wechselseitiges Verhältnis.

Eine solche Welterfahrung treibt den Prozess der „Entmythologisierung“ immer weiter. Da darf nichts mehr symbolisch repräsentiert werden. Da muss alles „real“ zur Verfügung stehen. Da gibt es kein Vertrauen mehr, nur noch direkte Herrschaft. Da ist keine Sicherheit, wenn nicht die Grundlagen der Existenz selber an kurzen Fäden in der Hand gehalten werden.

Entscheidung vor Pilatus
„So „richtig“ und „grossartig“ diese Welt auch aussieht, sie entspricht dennoch nicht der „Wahrheit“. Wahrheit – das ist ein grosses Wort! Gibt es hier eine Entscheidung aus Gründen? Stehen hier nicht einfach verschiedene „Daseinsentwürfe“ einander gegenüber?

Das so entworfene Leben ist nicht lebensfähig. Es kann sich selber nicht am Leben erhalten. Es beerbt eine frühere Phase, die Leben aufgebaut hat, es kann nur als Verfallsform entstehen. Auf diesen Prinzipien kann kein Leben entstehen. Zu den unverzichtbaren Grundlagen des Lebens gehören Vertrauen und Autonomie, ohne das gibt es kein Handeln, kein Kooperieren, keine gesellschaftliche Organisation. Ohne das gibt es nur Krankheit und Selbstmord, atomistische Zersplitterung. Darum haben all diese Vorboten einer angeblichen neuen Zukunft nicht Recht. (Ausserdem kennen wir diese Zukunft bereits, es ist die Zukunft des 1000jährigen Reiches.)

 

Aus Notizen 1986

Foto von Pavel Danilyuk, Pexels

Zu den Müttern der Plaza de Mayo (Wikipedia): «Die „Madres de Plaza de Mayo“ ist eine Organisation argentinischer Frauen, deren Kinder unter der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 unter zunächst ungeklärten Umständen „verschwanden“. (…) Erst nach und nach stellte sich heraus, dass das systematische, geheim gehaltene Verschwindenlassen politischer Gegner ein Teil des so genannten schmutzigen Krieges des Militärs war. Nach dem Übergang zur Demokratie zeigte sich, dass auf diese Weise bis zu 30.000 Menschen ermordet worden waren. Die Mütter gehören zu den wenigen Menschen in Argentinien, die dagegen öffentlich protestierten.»

Zum Aschermittwoch, Beginn der Passionszeit