Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Je näher er dieser Stelle kommt, desto nervöser wird er. Er findet vieles aus seiner Zeit in diesem alten Text, darum fühlte er sich erst so angezogen. Und er hat eingewilligt, ihn zu lesen. Da ist das Gefühl, in eine falsche Richtung zu gehen. Da ist das Hin und Her: Soll man sich ängstigen, soll man es beschwichtigen? Da sind die Meldungen von fernen Katastrophen. Aber hat das Folgen bis zu uns?

Die einen warnen und machen grossen Wirbel. Aber der Sommer steht an und die Ferien. Es wird wohl nicht so schlimm kommen, wie die Miesmacher sagen. Seit mehreren Wochen liest er jetzt diesen Text. Es wird eine Hörbibel. Alle Texte werden auf Tonträger gesprochen. Anfangs ging es ganz flott.

Der eherne Himmel
Aber seit einiger Zeit spürt er eine Unruhe. Es geht nicht mehr lange, da kommt jene Stelle, die er sich bei der ersten Lektüre angestrichen hat. Der Fluch des Moses. „Du wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder im Dunkeln tappt“. „Der Himmel, der über deinem Haupt ist, wird ehern werden und die Erde unter dir eisern.“ Über viele Verse geht es. Was die Angst sich nur ausmalen kann. Was ein Volk in seinen schlimmsten Zeiten erlebt hat. Diese Stelle macht ihm Angst, dann aber zieht sie ihn auch wieder an. Hier wird nichts beschwichtigt, hier kann er endlich dem ins Auge sehen, was ihn beunruhigt.

Fasziniert und erschrocken
So liest er Tag um Tag, fasziniert und erschreckt in einem. Er geht auf diesen Text zu, als ob darin das Urteil zu finden wäre über die Welt, über ihn und seine Hoffnungen. Und über das, was er für seine Kinder erwarten darf. Er liest, und endlich ist der Tag da. Er meint erst, der Schlag müsse ihn treffen. Aber es geht. Die Stelle kommt, auch jene, die das Unaussprechliche androht. Aber er kann es lesen.

Und indem er es ausspricht fällt eine ungeheure Not von ihm ab. Er hat der Angst ins Gesicht gesehen. Andere haben das schon erlebt. Es gibt einen Weg hindurch, es ist nicht einfach das Undenkbare, vor dem alles verschwindet, als ob ein grosses schwarzes Loch ihn und alles verschlänge.

Bilder für das Undenkbare
Er begreift: Ich war falsch ausgerichtet, ob mit oder ohne Schuld. So ging es in die falsche Richtung. Die Korrektur musste kommen. Es tut gut, diesen Text zu lesen. Er stellt Bilder zur Verfügung. Es ist nicht mehr das Undenkbare, bei der die Seele und die Welt aus den Fugen geraten.

In der letzten Zeit war eine Angst in ihm gewachsen: vor einem dunklen Gott. Das war nicht mehr der Gott, den die Seele kennt. Wo er vertrauensvoll Zwiesprache halten kann, sich getragen weiss. Sondern ein Gott, der Unbekanntes plant, Unaussprechliches, das in seiner Phantasie aufstieg wie ein dunkles Gewitter.

Jetzt hat er es ausgesprochen. Der alte Text hat ihm Worte gegeben. Und eine tiefe Ruhe ergreift ihn. Es gibt Worte dafür. Es fällt nicht mehr aus der Wirklichkeit heraus. Es gehört dazu. Gott hat es in der Hand.

Der dunkle Gott ist auch der helle Gott. Er tötet und macht lebendig. So schafft er das Leben. „Gesegnet wirst du sein bei deinem Eingang und gesegnet bei deinem Ausgang“, sagt Moses.

 

Aus Der starke Gott. Notizen 2011.
Der «Fluch des Moses» findet sich in 5. Mose 28,15ff, sein Segen in 5. Mose 28,1ff
Bild von Louis Soutter – https://www.wikiart.org/en/louis-soutter, Gemeinfrei