Diese Radikalität der Predigt Jesu!

Ist die Bergpredigt lebbar?

Zum Palmsonntag 2019

Im Radio diskutierten sie über Religionen, ob es erlaubt sein soll, religiöse Symbole in der Schule zu zeigen. Ein Teilnehmer zeigte sich sehr kritisch, aber eines nimmt er aus von dieser Kritik, das Gebot: „Liebe deine Feinde!“ Darin sieht er ein Geschenk an die Menschheit.

 

Die Bergpredigt, das ist einer der Grundtexte der Menschheit. Sie wird oft mit dem Auftreten Jesu gleichgesetzt. Und das wird zu den Grossereignissen der Menschheitsgeschichte gezählt. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers sprach von einer „Achsenzeit“, in der die Geschichte der Menschen auf neue Wege gebracht worden sei. Und er zählt grosse Gestalten und Religionsbringer dazu wie Konfuzius, Laotse, Buddha oder eben Christus.

Die Feindesliebe ist so etwas wie ein Spitzensatz im Christentum. Die Bergpredigt, wo dieser Satz steht, wird auch von Menschen anerkannt, die sonst dem Christentum kritisch gegenüberstehen. Meist wird aber hinzugefügt, dass die Christen gar nicht nach der Bergpredigt lebten. Und um es noch schlimmer zu machen, in der Geschichte des Christentums gibt es eine lange Diskussion, ob das überhaupt möglich sei.

Ist es möglich, nach den hohen Anforderungen der Bergpredigt zu leben?

Die radikale Forderung
Christus selber stellt sich gegen die ganze bisherige Tradition, wenn er sagt: „Euch ist gesagt, ich aber sage euch…!“ Und er verschärft die Anforderungen, die er an diejenigen stellt, die seinem Weg folgen wollen.

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten. Ich aber sage euch, dass jeder, der seinem Bruder zürnt, dem Gericht verfallen sein wird. Wer aber zu seinem Bruder sagt „Du Narr!“ der wird der Hölle des Feuers verfallen sein.“ (Mt 5,21 f)

Er betrachtet nicht nur die Tat und was einer macht, sondern schon den Gedanken, das Gefühl vor der Tat. Schon das innere Geschehen in einem Menschen, das zu einer Tat führt, wird dem Urteil unterworfen:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch, dass jeder, der eine Frau ansieht, sie zu begehren, schon Ehebruch mit ihr begangen hat in seinem Herzen.“ (Mt 5,28)

Verständlich, dass diese Radikalität auch Angst machte. Wer kann schon dafür, was er denkt? Nicht nur das Tun, schon die Gefühle muss man hier verantworten.

Dennoch fand er Nachfolger, die sich von dieser Radikalität nicht schrecken liessen. In der Zeit der Christenverfolgung in der Anfangszeit der Kirche gab es Menschen, die ihr Leben gaben für das Bekenntnis zu Christus, die sog. Märtyrer.
Im vierten Jahrhundert allerdings gab der römische Staat die Christenverfolgung auf, das Christentum wurde Staatsreligion. Jetzt war es einfacher, Christ zu werden. Jeder, der Staatsbürger war, war auch schon Christ.

Die billige Ermässigung
Das war einigen Menschen zu billig. So ohne Anstrengung sollte man nicht ins Reich Gottes kommen, dachten sie. Und auch das Römische Reich ist noch nicht das Reich Gottes, nur weil der Kaiser sich jetzt christlich nennt! Deswegen ist nicht alles heilig, was er macht und sagt.

Diese Menschen protestierten. Sie fühlten sich in ihrer Hoffnung verraten. Und sie wollten es ernster nehmen mit dem Glauben. Sie gingen in die Wüste. Wenn alle es sich leicht machten, so wollten sie es sich schwer machen. Sie luden sich die grössten Lasten auf. Denn nur so – dachten sie – ist der Weg zum Leben zu finden.

Und da war sie wieder: diese Radikalität der Predigt Jesu.

Zuerst lebten die Mönche einzeln als Eremiten in der Wüste, später schlossen sie sich zusammen. Sie lebten in Klöstern, wo sie gemeinsam ein Leben führten, das ganz dem Glauben und der Nachfolge Jesu gewidmet war.

Das wurde für das Mittelalter zu einem Vorbild: Wer es ernst meinte mit dem Glauben, wer sich mit seinem ganzen Leben dieser Forderung unterstellen wollte, der verschenkte sein Eigentum, er verzichtete auf Heiraten und ein Leben in der Gesellschaft, er schloss sich in einem Kloster mit anderen Mönchen zusammen und stellte sich gehorsam unter die Autorität eines Vorgesetzten. Das waren die drei Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam, die ein Mönch ablegen musste.

Auslagerung der Ethik
Damit war die Radikalität der Bergpredigt aufgenommen. Da war sie aber auch schon aufgehoben. Denn damit war gesagt, dass das eine Forderung war, der nur „Vollkommene“ nachkommen können. Menschen, die bereit sind, alles aufzugeben und aus der Welt abzuscheiden. Für Menschen in der Welt, die einen Beruf ausüben, die eine Familie haben und die darum auch ein Einkommen haben müssen, für solche Menschen taugt die Bergpredigt nicht.

Das hat sich in anderen Formen immer wieder wiederholt: Diese Radikalität sei nicht zu leben. (Im 19. Jahrhundert z.B. entdeckte man den apokalyptischen Hintergrund der Predigt Jesu. Man erwartete das nahe Weltende. Und so sei auch die Radikalität zu verstehen: Wer den Weltuntergang erwartet, der muss kein Geld mehr verdienen, der wird keine Familie mehr gründen. Der wird sich vor Gott stellen, alles andere ist unwichtig. So verstand man die Bergpredigt. Damit war auch gesagt: Uns geht sie nichts mehr an. Wir leben noch in der Welt, wir brauchen andere Orientierungen.)

Die Übersetzung in Psychologie
Diese Diskussion um die Bergpredigt wirkt heute ziemlich antiquiert. Heute diskutiert man die Lebensfragen nicht mit theologischen Begriffen. Heute versucht man es mit Psychologie. Aber das Thema ist damit nicht erledigt. Die Radikalität der Bergpredigt erscheint so wieder in neuem Gewand. Jetzt erscheint sie als Liebes-Forderung. Liebe den Nächsten wie Dich selbst!

Das kennt man. Auch die Probleme, die man damit hat. Es gibt Menschen, die nicht mal sich selber lieben können. Wie sollen sie andere lieben? Dass wir lieben sollen, das muss man uns nicht sagen und befehlen, das ist ein allererstes Lebensbedürfnis. Wir können wohl gar nicht anders glücklich werden im Leben, als wenn wir lieben dürfen. Aber manchmal geht es nicht. Ich denke an einen Menschen, seine Beziehung ist zerbrochen. Er ist so verletzt, dass er nicht auf einen Menschen zugehen kann. Er sieht all die Paare, die gemeinsam unterwegs sind, und es gibt ihm einen Stich ins Herz. Gerne würde der die Menschen lieben, aber er spürt: aus sich heraus kann er das nicht. Wenn er keine Liebe erhält, kann er keine schenken.

So ist auch die Liebesforderung zu schwer. Die Sackgasse der Bergpredigt wiederholt sich, ob man es nun theologisch formuliert oder psychologisch.

Man kann Vollkommenheit nicht einfordern. Und Liebe, das ist wie ein Römischer Brunnen: Aus dem unteren Becken kann Wasser ausfliessen, wenn oben anderes nachfliesst. So kann man sich verschenken, wenn man selber in diesem Flusse steht.

Die unmögliche Forderung
Die Bergpredigt ist radikal. Wer sich dieser Radikalität aussetzt, wird fast zerrissen. Diese Spannung liegt auch in der Bergpredigt selbst. Da ist einerseits diese Zuspitzung der Forderung, bis zur Unmöglichkeit. „Liebe deine Feinde!“ heisst es. Leiste dem, der dir Böses tut, keinen Widerstand! Betet für die, die euch verfolgen! Gleichzeitig klingt die Bergpredigt aus mit einem Lied auf die Sorglosigkeit: „Sorgt euch nicht“, sagt Christus. „Seht die Lilien an auf dem Felde, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht und sie spinnen nicht. Ich aber sage euch, dass selbst Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht bekleidet war wie eine von diesen.“

Das erste, was Christus tut nach der Bergpredigt: Er heilt einen Aussätzigen. Er zeigt damit, woher das Heil kommt: nicht aus der Anstrengung der Menschen, es kommt von Gott. Und der Eingang der Bergpredigt ist wie eine Einladung. Das sind die Seligpreisungen. Die Elenden werden glücklich gepriesen, denn jetzt kommt ihre Rettung, jetzt kommt das Heil.

Das Geschenk
Und so wandern wir hinter Christus her ins Reich Gottes wie das alte Volk Israel hinter Moses ins Gelobte Land. Oder die Vertriebenen in Babylon, die ins Land heimkehren dürfen. Gott geht vor ihnen her. Und das Heil folgt ihnen auf dem Fuss.

So wird es ja auch gefeiert, am Palmsonntag, wenn Christus einzieht in Jerusalem, und die Erlösten ziehen mit ihm. Das ist der Triumph der Bergpredigt. Jetzt kommt alles ans Ziel, wenn Gott kommt und sein Reich aufrichtet. –

Aber nach dem Palmsonntag kommt der Karfreitag, er wird gekreuzigt. Da ist das Römische Reich. Das Reich Gottes steht noch aus.
Gerechtigkeit, Liebe, Wahrheit – das ist alles noch auf dem Weg.

Die Spannung
Die Bergpredigt ist in sich voller Spannungen, hier wird schon das Ziel gefeiert, dort ist man noch ganz am Anfang. Hier werden wir zur Sorglosigkeit aufgerufen – dort kommt die Warnung vor dem breiten Weg, vor dem wir uns hüten sollen.
Hier ziehen wir ins Reich Gottes ein mit dem ganzen Volk – dort heisst es, dass nur wenige dahin finden.
Hier werden die Elenden schon seliggepriesen, weil das Ende der Not nahe ist. Und dann heisst es: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern der, der den Willen meines Vaters tut.“

Die Bergpredigt ist in sich voller Spannungen, und wir sollen diese stehen lassen. Es ist falsch, sie auflösen zu wollen nach einer Seite. Wir sollen nicht behaupten:
Es ist unmöglich, die Bergpredigt zu halten! Wer danach leben will, macht sich nur kaputt! Und auch die Gegenthese ist nicht richtig, wenn man sagt: Es ist möglich, nach der Bergpredigt zu leben. Wenn wir nur richtig wollen, können wir auch. Und diese Welt braucht entschlossene Menschen, damit das Elend auf ihr ausgerottet wird!

Eine Hilfe für den Weg
Wir sollen die Spannung bewahren, das ist meine These: Sie ist gewollt. Nur in dieser Spannung finden wir zum richtigen Leben.
Wir sollen gelassen sein und unser Schicksal Gott anvertrauen – aber wir sollen uns auch für das Richtige einsetzen mit ganzer Kraft.
Wir sollen alles aufbieten, was wir haben – aber nicht verzweifeln, wenn es nicht reicht.
Wir sollen voll und ganz auf Gott vertrauen – aber doch auch eigene Schritte tun.
Wir sollen die Sachen anpacken – aber nicht meinen, dass der Mensch die Welt erlösen könne.

Christus selbst gibt uns einen Hinweis, wie wir mit der Bergpredigt umgehen können. Ganz zum Schluss fasst er sie zusammen in der Goldenen Regel: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun!“ (Mt 7,12)
Wenn ich mich daran halte, entsteht so etwas wie ein Mikro-Klima, ein Ort, an dem das Reich Gottes schon spürbar ist:
Ich werde wahrgenommen als Mensch – und der andere auch.
Ich werde gerecht behandelt – und die andere auch.
Ich bin in Liebe angenommen – der andere auch.
Und diese Liebe wartet nicht auf den Beweis, dass sie verdient ist. Sie wird geschenkt und weckt so die Gegenliebe. Auf das Geschenk folgt das Gegengeschenk.

Damit ist das Reich Gottes noch nicht da, aber es bricht an. Die Welt liegt gewissermassen immer noch im Römischen Reich. Aber mit dem Palmsonntag hat Christus schon begonnen, sein Reich aufzurichten. Und er ist mit jedem auf dem Weg, der ihm auf seinem Weg folgt. Und er hilft ihm und begleitet ihn.

Zum Palmsonntag, 14. April 2019.
Foto von Milly Eaton von Pexels