Der vergrabene Schatz

„Wo ist mein Schatz?“, frage ich mich nach dem Aufstehen. Ich habe gestern die Baruch-Apokalypse gelesen. Da wird erst deutlich, was die Vorstellung von einem Schatz beinhaltet: Die Geräte des zerstörten Tempels werden in der Erde vergraben. Das ist nicht nur ein Tempelschatz, das sind nicht nur Becher aus Gold und Silber. Sie sind ein Unterpfand, dass es einen neuen Tempel geben wird, eine neue Heilszeit.

Aushalten in schlechter Zeit
Aber wir überwintern, bis diese eintritt. Das ist Aushalten in schlechter Zeit, wo das Leben nicht gelebt werden kann, wie es nach seinem Vollsinn gemeint ist. Wo wir zwar symbolisch teilhaben am Ganzen, wo diese Teilhabe aber nicht real erlebt wird, höchstens in Teilen, in Momenten.

Daran ist der Kommunismus gescheitert, dass er die Spannkraft der Hoffnung überforderte: die symbolische Vermittlung wurde nicht zur realen Versöhnung. So wurde er zu einer Religion im schlechten Sinn, zu einem Opium für das Volk, das vertröstet.

Ein Pfand für kommendes Heil
Baruch sitzt auf den Trümmern des Tempelberges und empfängt eine Offenbarung über die Zukunft. Es kommt neues Unglück. Doch es sind Engel, die Jerusalem und den Tempel zerstören. Rom ist nur ein Werkzeug. Damit erweist sich Gott als Herr der Geschichte.

Dann sagt der Engel: „Erde! Erde! Erde! Höre das Wort des allmächtigen Gottes und nimm diese Dinge in Empfang, die ich dir nun anvertrauen will! Hüte sie und bewahre sie bis zu den letzten Zeiten, und schütze sie vor den Fremden, und halte dich bereit, sie herzugeben, wenn es dir befohlen wird. Denn die Stunde ist gekommen, da Jerusalem preisgegeben wird für eine Weile, bis sie wieder hergestellt wird nach dem Wort für immer. Und die Erde tat ihr Maul auf und verschlang sie.“

Im Himmel sind das neue Jerusalem und der neue Tempel bereits vorgebildet. Sie werden herabkommen zur gegebenen Zeit. Aber die Geräte sind als Schatz in der Erde verborgen. Die Erde selbst bewacht sie und gibt sie zur gegebenen Zeit hervor. Sie lässt sie hervorwachsen wie aus einem Samen.

Es ist nicht Reichtum und Gold allein, was den Schatz ausmacht und seine Kostbarkeit. Als Tempelgeräte sind es Vorbilder des Heiligen Grals (Abendmahls-Kelch), es ist ein Unterpfand für das Reich Gottes, die neuen Heilszeit, wie das Abendmahl, wie das Passamahl.

Analogiezauber
Das Buch Baruch und die Baruch-Apokalypse beziehen sich auf den historischen Baruch, der zur Zeit des ersten Exils lebte. Sie nehmen die Autorität Baruchs in Anspruch, um beim Leser Glauben zu wecken. Vor allem ist es eine Art historischer Analogiezauber: Baruch lebte im Exil und es gab eine Heimkehr. Auch wir sind im Exil. Auch für uns wird es eine Rückkehr geben. Gott wird alle sammeln von Ost und West und Nord und Süd und er wird sie heimführen ins Gelobte Land!

Die Verwendung seines Namens stellt alles in einen Kontext: in den Kontext des grössten Leids, das das Volk bisher erlitten hat, und in den Kontext der grössten historischen Rettungserfahrung, die das Volk bisher erlebt hat.

Unter dem Namen des alten Propheten schreiben heisst: Unsere Zeit ist wie die Leidenszeit im Exil. Unsere Zeit ist wie die Erlösungszeit, als die Vorväter aus dem Exil zurückkamen. So nährt sich die Hoffnung auf neues Heil aus der Erfahrung der Vorzeit. Das gilt auch für das Christentum, daran schliesst das zweite Testament an: Die Texte von der Rückkehr bilden auch das Grundgerüst für den Jubel im Christentum. „Tröstet, tröstet mein Volk!“ heisst es im Advent. „In der Wüste bahnt einen Weg dem Herrn…“

 

Foto von Photo Grapher von Pexels

Der Name «Baruch» taucht in der Bibel mehrfach auf, immer in schwerer Zeit. Der historische Baruch aus dem 6. Jahrhundert vor Christus begleitet den Propheten Jeremia. Es ist die Zeit des Exils, als viele aus Juda nach Babylon verschleppt werden. Es ist die Zeit, als Volk und Vaterland verloren gingen. Der Tempel wurde geschleift und geschändet, die Geräte nach Babylon entführt. Als Babylon untergeht, als ihr Reich von den Persern erobert wird, können die Exilierten nachhause zurückkehren. Eine neue Stadt, ein neuer Tempel wird gebaut. Doch 70 n. Chr. wird auch dieser Tempel zerstört. Nach dem Aufstand 132-135 n. Chr. zerstreuen die Römer das Volk in die Diaspora. Das Unglück scheint sich zu wiederholen. Ein Zeitgenosse schlüpft in die Gestalt des Baruch und deutet es nach dem Muster der ersten Katastrophe.