Die Lücke in der Zeit

Die Nacht, in der die Tiere reden

Ich möchte Sie entführen in eine Zeit, in der man nachts noch die Sterne sah.
Es war still auf dem Feld, kein Motoren-Gebrumm durchbrach die Ruhe, kein Licht erhellte die Nacht. Die Milchstrasse stellte einen silbernen Bogen in den Himmel. Und man erzählte sich von himmlischen Mächten, die auf dieser Brücke zwischen Himmel und Erde auf- und nieder steigen.

 

Die Zeit der zwölf Nächte
Wir feiern in einer Zwischenzeit, zwischen dem alten und dem neuen Jahr, zwischen Weihnacht und Dreikönigs-Tag. Das ist die Zeit der zwölf Nächte, die man früher an gewissen Orten die Rau-Nächte nannte. Diese waren sagenumwoben. Man fürchtete sich vor dem Einbrechen dunkler Mächte und wollte sich davor schützen. Der Anbruch der neuen Zeit weckte andererseits grosse Hoffnungen. Die Zukunft ist aber ungewiss, so gab es immer auch das Bedürfnis, mit Orakeln die Zukunft zu befragen und sich Glück zu wünschen.

So gab es viele Bräuche, die den Menschen in dieser Zwischenzeit schützen sollten. Sie sollten ihn sicher in die Zukunft geleiten und Hoffnung geben. Noch heute lebt vieles davon fort in den Sylvester-Bräuchen, in Halloween und Fastnacht.
Darum feiern die Christen in dieser Zeit Weihnachten und erinnern sich daran: Gott selber kommt zur Welt. Darin beruhigen sich die Ängste. So erhalten die Hoffnungen neue Kraft. So können wir voll Zuversicht in die Zukunft gehen: Weil jemand bei uns ist, der uns begleitet „durch dick und dünn“. Der uns auf einen guten Weg führt, der uns und dieser Welt Zukunft gibt.

 

Die Nacht
Ich möchte Sie entführen in eine Zeit, in der man nachts noch die Sterne sah.
Da war die Nacht noch nicht künstlich erhellt, es gab nur wenige Städte, die über sich einen Dunstkreis von künstlichem Licht ausbreiteten. Es gab noch keine Industrie, die Menschen lebten von der Landwirtschaft. Da war man viel draussen, auf dem Feld, im Wald. Es gab viel weniger Häuser und Strassen. Man war den Eindrücken der Natur ausgesetzt.

Da sah man nachts die Sterne. Und auf dem Feld war es still, kein Motoren-Gebrumm durchbrach die Stille, kein Licht erhellte die Nacht. Da sah man sogar die Milchstrasse, die einen silbernen Bogen in den Himmel stellt. Und man erzählte sich von himmlischen Mächten, die auf dieser Brücke zwischen Himmel und Erde auf- und nieder steigen.

 

Das Geschehen am Himmel
Da war es ein grosses Erlebnis, wenn die Sonne auf- oder niederging. Am Morgen war es, als ob die ganze Natur erwachte. Und abends kam mit der Dunkelheit die Kälte, gegen die man sich noch nicht so gut zu wehren wusste. Der Winter war eine Herausforderung. So viel Brennholz musste man speichern, so viel Nahrungsmittel haltbar machen über die dunkle Zeit, bis man wieder säen und ernten konnte und es frische Nahrung gab.

Die Menschen lebten im Rhythmus der Jahreszeiten. Pflanzen und Tiere – das ganze Leben wird damals vom Rhythmus von Frühling, Sommer, Herbst und Winter bestimmt. Aber auch der Monat prägt sich dem Leben ein. Der Tag ist ein anderer Rhythmus, der noch heute unser Leben bestimmt, auch wenn wir uns heute durch die Zivilisation gegen die Natur abschirmen. Wir können die Nacht zum Tag machen, den Winter zum Sommer, aber in unserer Körperfunktionen sind die alten Rhythmen immer noch eingeschrieben. Wir spüren es z.B., wenn nach einer Flugreise der Tag-Nacht-Rhythmus gestört wird (time lag).

Tag, Monat, Jahr – diese drei Rhythmen bestimmen unser Leben, sie gehen aber nicht einfach in einander auf. Die Umdrehung der Erde um ihre Achse (Tag) und die Zeit, die der Mond braucht, bis er die Erde umrundet, das ist unabhängig voneinander. Als drittes kommt die Umdrehung der Erde um die Sonne dazu (Jahr). Alle drei Rhythmen sind wichtig für unser Leben, aber sie lassen sich nicht einfach ineinander umrechnen.

Heute begreifen wir das Problem vielleicht gar nicht mehr. Wir sagen einfach, ein Jahr hat 12 Monate, und ein Monat etwa 30 Tage. Aber damit das aufgeht, müssen wir die Monate unterschiedlich lang ansetzen. Da gibt es solche von 30 oder 31 Tagen, der Februar hat gar nur 28 Tage. Und damit der Umlauf von Sonne und Mond zusammenstimmen, bauen wir alle vier Jahre einen Schalttag ein.

 

Die Lücke in der Zeit
Für die alten Kulturen war es ein grosses Problem, diese Himmelsbewegungen zu verstehen. Wenn Sonne und Mond ihren Umlauf gemeinsam beginnen, kommen sie nicht gemeinsam wieder an ihrem Ausgangspunkt an. Während die Sonne einmal ihre (scheinbare) Jahres-Bahn über den Himmel zieht, muss der Mond 12-mal die Erde umkreisen, aber dann fehlt noch ein Stück. Es fehlen noch zehn Tage.

Es ist wie eine Lücke in der Zeit. Aber nach 99 Mondumläufen stimmt sein Weg wieder mit dem Sonnenumlauf überein. 99 Monate, das sind acht Jahre. Darum war die Zahl acht in der Antike die Zahl der Vollkommenheit, weil dann der Kosmos wieder zusammenstimmt. Die Sphären, an denen Mond und Sonne kreisen, liegen wieder übereinander. Vorher scheinen sie verschoben.

 

Die Lücke im Kosmos
Für das antike Weltbild war das wie eine Lücke im Kosmos. Und die Menschen fürchteten sich, die Wesen der höheren oder unteren Sphären könnten in dieser Zeit durch die Lücke auf die Erde kommen. Die Verstorbenen aus der unteren Welt würden wieder herumgehen, Dämonen brächen in diese Welt ein. Die Mächte der oberen und unteren Welt würden das Schicksal des Menschen verändern.

Andererseits könne man in dieser Zeit, in diesen 12 Nächten (Heilig Abend bis Dreikönigstag) durch die Lücke in die obere Welt sehen. Die Zukunft, die dort schon bereit liegt, zeige sich. Oder sie offenbare sich in Engelsmächten.

Darum befragte man in dieser Zeit Orakel, die die Zukunft verkünden sollten. Kinder, die in dieser Zeit geboren werden, sollten angeblich Geister sehen können. Tiere können nach dem Volksglauben in dieser Zeit reden. Dazu kannte man alle möglichen Bräuche, die die Geister und Dämonen vertreiben sollten, z.B. das Krachmachen, von dem an Sylvester noch einiges weiterlebt – wie ja auch das Bleigiessen und Zukunftsdeuten von Sylvester auf diese Zeiten zurückgeht.

 

Die Lücke in der Gewissheit
Die Mittel haben sich verändert, teils leben die alten Bräuche immer noch fort. Aber die Gefühle sind uns nicht fremd. Auch wir kennen Zwischenzeiten, wenn etwas Altes abgeschlossen ist und etwas Neues anfängt. Für die Zukunft möchten wir das Beste hoffen, aber weil die Zukunft ungewiss ist, können sich auch Befürchtungen daran knöpfen. So suchen wir etwas, was uns Vertrauen gibt, wo wir unser Leben gehalten wissen.

Und weil wir ein Teil sind dieser ganzen Welt, möchten wir spüren, dass diese Welt Bestand hat, trotz all dem, was wir hören in den Nachrichten, was uns manchmal das Gefühl gibt, die Zeit sei aus den Fugen, der Kosmos habe seine gute Form verloren.

Was ist das, was Macht hat über den ganzen Kosmos? Wo auch wir Menschen eingebettet sind mit unserem Leben? Wo wir unsere Befürchtungen hintragen können, aber auch unsere Hoffnungen, dass eine Wende kommt vom Kosmos her und das Geschick zum Guten wendet?

 

Zeitrechnung als theologische Disziplin
Die Antwort gibt uns der Kalender. Der bürgerliche Kalender schreibt heute den 30. Dezember. In der kirchlichen Zeitrechnung ist heute der erste Sonntag nach Weihnachten. Wir stehen noch in der Weihnachtszeit. Wir feiern die Ankunft Gottes in dieser Welt. Es ist nicht nur ein Datum für unser persönliches Leben, wir begreifen jetzt, warum es für die Geschichte der Christenheit immer auch ein kosmisches Datum gewesen ist.

Der ganze Kosmos ist betroffen, wenn der Schöpfer kommt. Darum sagt der Evangelist Markus, dass man das Evangelium allem Kosmos verkündigen soll. Darum fordert das erste Testament das Feld auf, dass es jubeln soll, die Bäume, dass sie jauchzen. Darum erzählen die Legenden, dass die Blumen aufblühen, wo Christus seinen Fuss hinsetzt. Darum sagt der Apostel Paulus, dass Christus mit seinem Gang durch die Schöpfung alles seinem Fuss unterwirft. Und so Erlösung bringt.

Wir verstehen jetzt seine Sprache, wenn er von Mächten und Gewalten spricht, die Christus dienen müssen. Es ist die Sprache der Antike. Sie spricht über den Abstand von 2000 Jahre zu uns, sie spricht eine fremde Sprache, aber was sie meint, das verstehen wir. Sie will uns sicher machen in unserem Vertrauen, dass „nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur. Denn diese Liebe ist in Christus Jesus, unserem Herrn“.

Im Psalm heisst es: „Singt dem Herrn ein neues Lied! Denn gross ist der Herr und hoch zu preisen. Sagt unter den Völkern, der Herr ward König! Fest steht der Erdkreis und wankt nicht. Des freue sich der Himmel, frohlocke die Erde, es donnere das Meer und was es erfüllt. Es juble das Feld und was darauf steht. Es sollen jauchzen alle Bäume des Waldes. Der Herr ward König. (Aus Ps 96)

 

Nach einem Gottesdienst, 30. 12. 2007
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