So schön, dass es weh tut

Ich wache auf. „Ach, ja, es ist Neujahr!“ Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass etwas Neues beginnt; fast steigt etwas Furcht auf, aber auch Freude. Sonst war es immer nur „mehr desgleichen“.

An den Traum kann ich mich nicht erinnern. Ich möchte mit einem Gebet in den grossen Raum hineingehen, der vor mir steht – offen, feierlich, wie ein Wald oder eine Kathedrale.

Ich öffne die Jalousien im Schlafzimmer einen Spalt weit, draussen ist es dunkel und neblig.

Und der Nebel sagt:
Nebel, Nebel, Nebel,
Und der Schnee sagt:
Schnee, Schnee, Schnee,
Und die Häuser sagen:
Häuser, Häuser, Häuser –
Ein wenig einsilbig
am Neujahrsmorgen!

Als ich aber draussen bin,
im Nebel, im Schnee,
Ruft es von der einen Seite
„Tu–tuu-tu!“
Und antwortet von der anderen Seite
„Tu–tuu-tu!“ –
Die Türkentaube
(mein Ersatz-Kuckuck, seit man diesen nicht mehr hört)
hat einen Täuberich gefunden!

Und jetzt bemerke ich:
Der ganze Raum zwischen den Häusern ist erfüllt von Gezwitscher! –
Und Fröhlichkeit überkommt mich, mitten auf dem Weg,
im Nebel und im Schnee:
Es wird Frühling!

Im Schnee liegen abgebrannte Raketen vom Sylvester-Abend,
Schwärmer, ganze Batterien,
wie Abschuss-Rampen –
Das Feuerwerk hat Fortschritte gemacht,
seit ich als Kind damit spielte!

Eine Amsel fliegt über den Weg,
Sie fliegt im Hüpf-Flug
über die Hecke
Und taucht dann wieder ab –
ein Bild wie seit 100 Millionen Jahren.
Die Schönheit trifft mich wie ein Schlag.

 

Dank
Auf dem Rückweg treffe ich Herrn und Frau M. Sie tragen Einkaufstaschen. „So früh schon auf dem Weg?“ (Sie sind gealtert in den letzten Jahren). „Unsere Tochter hat ein Kind bekommen, wir fahren nach Basel, sie besuchen!“ (Sie sehen jung aus und strahlen.) Ich danke Gott, dass er alte Menschen wieder jung macht und ihnen Enkelkinder schenkt.

Es ist eine schöne Welt am Anfang dieses Jahres!

 

Aus Notizen 2015
Foto von Sam Willis von Pexels