Geschichtsprägende Traumatisierungen

Dass Krieg und Gewalt zu traumatisierenden Verletzungen führen, ja das ganze Generationen dadurch geprägt werden, tritt heute wieder vermehrt ins Bewusstsein. Das Gedenken an Auschwitz zeigt, dass der Umgang mit historischen Traumata ein Erbe und eine Aufgabe für Generationen darstellt. Manche Verletzungen wurden geschichtsprägend. Sie beeinflussten die Geschichte einer Nation oder wurden sogar als Kern der Staatswerdung erinnert. Zwei der grössten historischen Traumata, die die Weltgeschichte beeinflusst haben, werden in der Bibel erinnert, mit all den Versuchen, damit umzugehen und den heilenden Kern darin freizulegen. Sie stehen im Zentrum des ersten und zweiten Testamentes.

 

Die Katastrophe des Exils
Ich beginne den Tag mit einer Bibellektüre. Heute ist es Psalm 89.

«Ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglich und seine Treue verkünden mit meinem Munde…»

Das klingt nach einem ruhigen Psalm, der Gott lobt. Aber die Erfahrung lässt aufhorchen. Hier wird das Thema angegeben: Gnade, und das heisst wohl auch, sie wird problematisiert.

»Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Auserwählten, ich habe David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinem Geschlecht festen Grund geben auf ewig…»

Die Verheissung
Das ist die Davidsverheissung, eine der vielen Zusagen, die das Volk in seiner Geschichte erhalten hat und auf die es sich im Gebet beruft: Volksverheissung, Landverheissung, Davids-Verheissung, Bundes-Schluss…

«Wenn aber seine Söhne mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, wenn sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.»

Die Könige auf dem Davids-Thron werden erwähnt, die vom Bund abgewichen sind und bestraft wurden, die Königsbücher berichten davon. So ist das Nordreich untergegangen. Aber die Herrschaft in der Davids-Stadt besteht weiter.

«Ich will meinen Bund nicht entheiligen und nicht ändern, was aus meinem Munde gegangen ist. Eines habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit und will David nicht belügen: »Sein Geschlecht soll ewig bestehen und sein Thron vor mir wie die Sonne…»

Über viele Zeilen geht es weiter, das Gotteslob. Am frühen Morgen bin ich darüber eingeschlafen. Aber plötzlich war ich hellwach:

«Aber nun hast du verstossen und verworfen und zürnst mit deinem Gesalbten!»

Also doch! Die Gnade, die auf ewig geschworen wurde, scheint vorbei. Der Bund, der nie brechen sollte, scheint aufgehoben.

«Du hast zerbrochen den Bund mit deinem Knecht und seine Krone entweiht in den Staub.»

Nach der Katastrophe
Der Psalm ist ein grosses Nachdenken nach der Katastrophe des Südreichs, als auch Juda zerstört wurde und seine Bewohner ins Exil geführt.

«Du hast eingerissen alle seine Mauern und hast zerstört seine Festungen. (…) Du hast seinem Glanz ein Ende gemacht und seinen Thron zu Boden geworfen. Du hast die Tage seiner Jugend verkürzt und ihn bedeckt mit Schande. Wie lange, Herr, willst du dich verbergen und deinen Grimm wie Feuer brennen lassen? (…) Herr, wo ist deine Gnade von einst, die du David geschworen hast in deiner Treue?»

Da ist sie jetzt, die Gnade, die der erste Vers anstimmt und die der Betende besingen will. Aber alles, was er erlebt, was dem Volk widerfährt, läuft auf das Gegenteil hinaus. Jerusalem fällt, der Tempel wird zerstört, auch das Südreich Juda geht unter. Eine Wirklichkeit im Gegensatz zu allen Verheissungen! Die Geschichte scheint kein Ort mehr, die die Verheissung fassen kann, diese Wirklichkeit kein Ort, wo es eingelöst werden kann.

«Wo sind, o Herr, deine früheren Gnadenerweise, die du dem David in deiner Treue zugeschworen hast? Gedenke, o Herr, an die Schmach, die deinen Knechten angetan wird, die ich in meinem Gewand trage von all den vielen Völkern, mit der deine Feinde dich, Herr, schmähen, mit der sie schmähen die Fussstapfen deines Gesalbten! Gepriesen sei der Herr ewiglich! Amen, ja, Amen!»

Der Riss in der Wirklichkeit …
Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit, wie der Beter sie erfährt. Die geschichtliche Erfahrung und das Vertrauen auf Gott, fallen auseinander. Und sie lassen sich nicht mehr wie in den Königsbüchern vermitteln durch das Konzept: Abfallen von Gott und Strafe. Die tiefsten Verheissungen, die tiefsten Erfahrungen von Geborgenheit in der Welt sind erschüttert.

Gott scheint seine Treue aufgehoben zu haben, seine Schwüre vergessen. Das schien so fest wie die Berge, so zuverlässig, wie die Sonne aufgeht. «Ich will ihm seinen Thron erhalten, solange der Himmel währt.» Die Davids-Verheissung scheint gebrochen. Trotzdem lobt der Betende Gott. Er muss die Erfahrung festhalten. Und er will die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt.

Die Wirklichkeit, wie er sie erfährt, kann er nicht belügen. Dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, ein Lebensrecht für alle Menschen, das ist eine Intuition, ohne die er auch nicht leben kann. So endet der ganze lange Psalm, die bittere Erforschung der Geschichte, der heiligen Überlieferungen, der Hoffnungen, die von einer Generation auf die andere übertagen wurden, nicht in Anklage, nicht in Selbstverfluchung, sie endet in einem Lob Gottes. «Gepriesen sei der Herr ewiglich! So sei es, ja so sei es!»

… und seine Vermittlung
Er muss die Erfahrung festhalten. Und er muss die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt. Beides braucht es zum Leben. Die Lösung ist ein kontrafaktisches Festhalten an den Verheissungen – noch ist das Ende der Geschichte nicht da, dass sie sich nicht doch als wahr erweisen könnten! Es ist – gegen alle schreckliche Erfahrung – ein Vertrauen in einen Daseinsgrund, der sich jetzt zwar schrecklich zeigt, weil alles, worauf man hoffte, wovon man lebte, verloren ist. Aber Gott ist da, auch wenn er nicht zu sehen ist, er ist gegenwärtig, auch wenn man nichts von ihm fühlt, er trägt alles und er wird auch unser Leben wieder tragen, wenn wir nur das Vertrauen nicht fahren lassen. – Und ich brauche ihn jetzt!

Die Katastrophe der Kreuzigung
Es ist ein Vertrauen, das kontrafaktisch gefunden wird, ohne Anhalt an der sinnlichen Erfahrung. Es ist ein Glaube, wie er am Karfreitag unter dem Kreuz gefunden wird. Da ist alles, was Menschen vermögen, am Ende. Aber unter dem Kreuz, wenn Gewalt und Unrecht sich ausgetobt haben, in der Stille, wenn das Tun des Menschen verhallt, ist das andere spürbar: das, was allem Leben vorausgeht, was es trägt, was es möglich macht, früher und auch in Zukunft. Und es ist auch jetzt da, man muss nur hindurchsehen durch den Schleier der schlechten Erfahrung, man muss nur auf Gott sehen, der alles trägt und dem wir unser Leben anvertrauen, was immer auch wird, denn bei ihm sind wir aufgehoben über alles hinaus, was die Welt geben oder absprechen kann.

Traumatisierung und Vermittlung
Der Versuch, ein eigenständiges und eigenstaatliches Leben zu führen, wird wieder und wieder enttäuscht. Jetzt scheint er den letzten Schlag erhalten zu haben. Das Freiheitsstreben wird traumatisiert. Was es sich ersehnt, was es an Hindernissen erfährt, das wird vermittelt im Glauben an Gott. Das geschieht kontrafaktisch, gegen alle Erfahrung. Führer ist die Intuition, dass es letztlich zusammenstimmt: das Sehnen und Erreichen, das Aufstehen und Ankommen, das Wollen und Vollbringen, die Werte und die Welt, wie sie sich darstellt.

Letztlich wird die Welt sein, wie sie von Gott gedacht ist. Sein und Sollen sind versöhnt, was die Bibel mythologisch ausdrückt in den zwei Bäumen von Erkenntnis und ewigem Leben. Seit Adam hat der Mensch nur von einem Baum gegessen, er weiss, was er soll. Aber dank der Erlösung in Jesus Christus, nach christlichem Glauben, hat er Zugang zum andern Baum. Der steht in dem andern Garten am Ende der Geschichte, da sind Früchte des ewigen Lebens. Und wenn der Mensch davon isst, kann er was er soll.

Was ihn hinderte, das ist im ersten Testament beschrieben worden als «Hartnäckigkeit» in einer Erfahrungsgeschichte, die zunehmend skeptisch beurteilte, dass der Mensch erfüllen kann, was er soll. Paulus sprach vom Widerspruch von Geist und Fleisch. In der Taufe haben wir schon Anteil an der neuen Welt. Doch leben wir noch in der sinnlichen Welt, wo das Fleisch dem Geist widerstrebt. So hindern wir uns selbst. Und wir können uns selber zuschauen, wie wir tun, was wir nicht wollen; und was wir sollen, lassen wir.

Ursünde und Endversöhnung
Augustinus hat das im Konzept der «Erbsünde» formuliert. So ist es vielleicht verständlich, hinter dem Konzept der Erbsünde diese Erfahrungsgeschichte zu sehen: wie Menschen wollen und nicht können; wie ganze Völker aufbrechen, und Gott scheint mit ihnen, aber sie kommen nicht ans Ziel; wie Menschen beten und auf Gott vertrauen, aber sie verstossen selber gegen das, was sie erbeten.

Die «Erbsünde» sagt nicht einfach die Unmöglichkeit aus. Das ist nur eine Erfahrung, die sie aufnimmt. Sie hält aber auch an der Intuition fest, dass es gelingen soll, dass Welt und Werte nicht immer unversöhnlich auseinanderfallen. Um es mit biblischen Bildern zu sagen: Am Ende wird Gott alle Tränen abwischen. Er tröstet die Traurigen, ermutigt die Verzweifelten, richtet die Gedemütigten auf. Er macht das Krumme gerade und bringt alle Verlorenen zurück.

 

Beachten Sie die weiterführenden Texte in: Trauma und Religion und
Traumatisierte Freiheit – Erinnerung an die «Erbsünde»

Bild: Bartholomäusnacht, von François Dubois

«Die Bartholomäusnacht ist ein zentrales Datum in der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert und tief im kollektiven Gedächtnis der Franzosen verankert. Sie wird häufig in der Literatur und der bildenden Kunst behandelt.» (Wikipedia)